Europa und Amerika:
Wenn Griechenland untergeht, würde sich unmittelbar die Frage einer Ausbreitung der Krise auf andere Länder stellen. Irland, Portugal, Spanien und Italien würden wie Dominosteine fallen. Banken werden zusammenbrechen, beginnend in Griechenland und Zypern, und dann in weiterer Folge würden das britische und das US-Finanzsystem, die beide ungesund sind, betroffen sein. Ein ökonomischer Zusammenbruch in Europa würde einen Tsunami über den Atlantik schicken, den Dollar unter Druck setzen und das instabile Finanzgerüst der USA bedrohen.
Deshalb verfolgen die USA die sich entfaltende Krise auf der anderen Seite des Atlantik mit grosser Sorge. Die USA drängen Europa sein Haus in Ordnung zu bringen, doch es übersieht geflissentlich die Unordnung im eigenen Haus. Die USA leiden unter hohen Defiziten, einer Wachstumskrise, hoher Arbeitslosigkeit und einer tiefen politischen Krise.
Die USA wenden sich verzweifelt an Deutschland “mehr zu machen”, um Europa aus der Krise zu ziehen. Deutschland soll die Steuern senken; Deutschland soll die Wirtschaft ankurbeln und mehr Geld nach Griechenland schicken und einen koordinierten fiskalpolitischen Stimulus in ganz Nordeuropa initiieren. Deutschland soll dies tun, Deutschland soll das tun. Doch wer sind die Amerikaner, dass sie den Deutschen anschaffen können, was sie tun sollen.
U.S.-Finanzminister Timothy Geithner warnte davor, dass ein Versagen der EU bei der Lösung der Griechenlandkrise eine ernsthafte Bedrohung für die gesamte Weltwirtschaft bedeuten würde. Völlig unüblich nahm Geithner an den Gesprächen zwischen den EU- Finanzministern und den EU-Notenbankchefs in Polen teil, wo er die Anwesenden wie kleine Kinder schulmeisterte. Nachher sagte er, dass die europäischen Staaten „nun erkannt haben, dass sie mehr tun müssen“, wenn sie die Krise lösen wollen. Ja, sagen die Europäer, aber wer soll für all das zahlen? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: Frankreich und Deutschland, oder besser gesagt, Deutschland, das Europas Banker und letzter Rettungsanker ist. Jene, die gross von einem Marshall-Plan für Griechenland geredet haben, werden nun höflich aber bestimmt gebeten ihr Geld rauszurücken. Doch das ist leichter gesagt als getan. Damit werden unmittelbar politische Probleme erhoben, die nicht so leicht gelöst werden können. Die Analogie mit dem Marshall-Plan von 1948 ist fehl am Platze. Nach dem Zweiten Weltkrieg retteten die USA den europäischen Kapitalismus durch eine riesige Kapitalspritze in Form des Marshall-Plans. Doch heute sind die Bedingungen andere. 1945 verfügten die USA über zwei Drittel der weltweiten Goldreserven in Fort Knox, und deshalb war der Dollar „so gut wie Gold“. Damals waren die USA die weltweit wichtigste Gläubigernation, jetzt sind sie die wichtigste Schuldnernation. Sie sind weit davon entfernt Europa zur Hilfe eilen zu können, und Obama ist gezwungen die Europäer zu bitten, ihre Probleme selbst zu lösen. Andernfalls würde die schwache ökonomische Erholung in den USA in Gefahr geraten.
Vor allem, als der Marshall-Plan umgesetzt wurde, stand die kapitalistische Weltwirtschaft am Beginn einer Aufschwungsphase, die fast drei Jahrzehnte andauern sollte. Heute haben wir es mit ganz anderen Rahmenbedingungen zu tun. Deutschland ist die Führungsmacht in Europa, doch es verfügt nicht über die regelrecht unbegrenzten wirtschaftlichen Reserven, welche die USA 1945 hatte. Obwohl Deutschland eine machtvolle Ökonomie hat, ist es nicht stark genug die Last der akkumulierten Defizite von Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien und dem Rest zu schultern. Was aber am entscheidendsten ist: Europa und die Welt stehen nicht am Beginn einer langen Aufschwungsphase, sondern im Gegenteil am Rande zu einer neuerlichen Rezession und einer ausgedehnten Periode ökonomischer Schwierigkeiten und Sparprogramme.
Die USA
Die USA selbst gerieten im August 2011 nahe daran, ihren Zahlungsverpflichtungen in der Höhe von 14,3 Billionen Dollar nicht nachkommen zu können, als die Regierung Obama in letzter Minute ein Abkommen schloss, das die Schuldengrenze anhob. Die Krise verursachte eine offene und bittere Spaltung zwischen der Republikanischen und der Demokratischen Partei, die unterschiedliche Schichten der kapitalistischen Klasse repräsentieren.
Bis vor kurzem sprach noch niemand über die immensen Schulden der USA. Doch das hat sich geändert, seit die Ratingagentur Standard&Poor im August 2011 verkündete, die Kreditwürdigkeit der USA von ihrer Spitzenbewertung AAA auf AA+ herabzusenken. Moody’s meinte gleichfalls, in Betracht zu ziehen, den USA das Triple- AAA zu nehmen, angesichts der steigenden Möglichkeit, dass die USA ihren Verpflichtungen nicht nachkommen könnte.
Die US-Regierung verfügt derzeit über ein Budgetdefizit in Höhe von 1,5 Billionen Dollar, was es erforderlich macht, Schulden in Form von Schuldverschreibungen, Anleihen oder anderen Sicherheiten zu machen. Die Gesamtschulden von 14,3 Billionen Dollar bedeuten einen scharfen Anstieg ausgehend von den 10,6 Billionen, als Mr. Obama das Amt im Jänner 2009 übernahm.
Das war nicht das erste Mal, dass der Kongress die Schuldenobergrenze angehoben hat, um damit der Regierung Zugang zu dem Geld zu geben, das sie brauchte. Seit 2001 wurde 10x für die Anhebung der Schuldenobergrenze gestimmt. Seit Mai griff die Bundesregierung der USA zu Ausgleichszahlungen und –buchungen sowie zu erhöhtem Steueraufkommen, um ihr Gebaren fortsetzen zu können. Der Chef der US-Notenbank Ben Bernanke sagte, dass eine Zahlungsunfähigkeit eine „grössere Krise“ verursachen würde. Das ist eine Untertreibung. Eine Zahlungsunfähigkeit der USA wäre das Szenario für ein Armageddon auf den Weltfinanzmärkten.
Obwohl beide bürgerlichen Parteien die Interessen der kapitalistischen Klasse verteidigen, haben sie unterschiedliche Vorstellungen, wie diese vonstatten gehen sollte. Die Republikanische Partei will harte Kürzungen. Obama war bereit, Kürzungen zu akzeptieren, doch er wollte die ArbeiterInnenklasse besänftigen, indem einige Steuern für die Reichen erhöht werden sollten. Doch das ist den Angehörigen der Republikanischen Partei im Kongress, die unter Druck der FanatikerInnen von der Tea Party stehen, die überhaupt keine Steuern wollen, ein Dorn im Auge. Letztendlich waren sie gezwungen, ein Abkommen zur Anhebung der Schuldenobergrenze zu treffen, wie sie es zuvor getan haben. Doch das Abkommen ging einher mit Kürzungen in der Höhe von einer Billion $.
Bis jetzt hat sich der Dollar gehalten, weil er als „sicherer“ Hafen für Geld in einer Zeit globaler finanzieller und monetärer Instabilität gesehen wurde. Doch wenn das US- Defizit weiterhin so hoch bleibt, wird das Vertrauen in den Wert des Dollar sinken, was einen Ausverkauf des Dollars und einen tiefen Fall seines Werts mit sich bringen wird. Die Notenbank glaubt, dass die Chancen für eine Rezession in den USA bei mehr als 50:50 stehen. Ebenso der Ökonom Travis Berge: „Die Vorsicht legt nahe, dass der fragile Status der US-Wirtschaft kommenden Turbulenzen nicht leicht standhalten wird. Eine Zahlungsunfähigkeit europäischer Staaten kann die Vereinigten Staaten in die Rezession treiben.“ Deswegen sind die USA so besorgt wegen Griechenland und der Zukunft des Euro. Bislang konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Geldmärkte auf Europa. Doch ein Zusammenbruch des Euro würde die wahre Schwäche des Dollar sofort hervortreten lassen.
Von Wisconsin zur Wall Street
Die Wirtschaftskrise trifft mit besonderer Härte die USA und wird hier sehr dramatische Auswirkungen haben. Es wurden im sogenannten Aufschwung sehr wenige neue Arbeitsplätze geschaffen. Tatsächlich wurden weniger Jobs geschaffen als nötig wären, um mit dem Bevölkerungswachstum mitzuhalten, geschweige denn um die 8 Millionen Jobs, die in der Krise verloren gegangenen waren, wettzumachen. Während des 3. Quartals 2011 gab es 1.226 grosse Massenentlassungen, die 184.493 Arbeitsplätze betrafen. Und das galt schon als Verbesserung gegenüber dem, was man aus den Quartalen zuvor gewöhnt war.
Wo es Wirtschaftswachstum gab, war es durch die steigende Ausbeutung der bestehenden ArbeiterInnenschaft zustande gekommen. Die Schaffung sowohl des absoluten wie des relativen Mehrwerts wurde in der letzten Periode intensiviert. Mit anderen Worten, weniger Beschäftige arbeiteten länger und härter bei geringerer Bezahlung. Das führt zu einem Wachstum des BIP und zu höheren Profiten. Aber es schafft keine Arbeitsplätze. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 9%, doch in Wahrheit beträgt sie das Doppelte. Millionen werden gar nicht in den Statistiken erfasst, weil sie nicht mehr nach Arbeit suchen. Es kommen fünf arbeitslose US-BürgerInnen auf jeden freien Arbeitsplatz. Das schliesst jene noch nicht mit ein, die die Suche nach einer Anstellung bereits aufgegeben haben. 14% leben mittlerweile von Lebensmittelmarken, die Armut in den USA liegt auf Rekordniveau.
Gleichzeitig zeigt ein Blick auf die Liste der 500 umsatzstärksten Betriebe, dass deren Profite 2010 um 81% gewachsen sind. Diese 500 Firmen und ihre Niederlassungen erwirtschafteten fast 10,8 Billionen $ Gesamtumsatz, was im Vergleich zu 2009 eine Steigerung um 10,5% bedeutet. Das BIP beträgt 14,7 Billionen $. Das heisst, dass diese 500 Firmen 73,5% des Gesamt-BIP der USA erzeugen. So wird Reichtum in Amerika konzentriert. Allein die Top10 auf der Liste der 500 beschäftigen über vier Millionen Werktätige.
Das erklärt den Einbruch für Obama und die Demokratische Partei bei den Wahlen zur Hälfte der Legislaturperiode. Es herrscht eine wachsende Unzufriedenheit und diese findet eine Stimme und einen tatkräftigen Ausdruck. Die Massenproteste in Wisconsin zeigten, dass sich in den USA etwas verändert. Sie waren ungewöhnlich, denn normalerweise protestieren die Menschen einen Tag lang und gehen dann nach Hause. Doch inspiriert von den Ereignissen in Ägypten wuchsen die Proteste rasch an, Zehntausende waren auf den Strassen von Madison, solidarisch unterstützt von der Feuerwehr und der Polizei, viele von ihnen trugen auf ihrer Kleidung den Schriftzug „Cops for Labor“.
Die DemonstrantInnen riefen Losungen wie „Kämpfen wie ein Ägypter!“ und „Von Kairo bis Madison, ArbeiterInnen vereinigt euch!“. Im Oktober 2010 organisierte die AFL-CIO einen Protestmarsch nach Washington D.C. Es war die erste landesweite ArbeiterInnendemonstration seit 1981. Die Gewerkschaftsführung wollte daraus eine pro-demokratische Veranstaltung machen, fand unter den TeilnehmerInnen aber kein Echo dafür.
In Folge wurden die USA von Demonstrationen „gegen die Gier der Bonzen“ erschüttert. Diese Proteste, organisiert von der spontan entstandenen Occupy Wall Street- Bewegung, fangen an, in den Reihen der Bourgeoisie Besorgnis auszulösen. Die New York Times Sunday Review schrieb in ihrem Editorial am 8. Oktober 2011: „An diesem Punkt ist Protest die Botschaft: Einkommensungleichheit wirft die Mittelklasse nieder, vermehrt die Reihen der Armen und droht eine Unterklasse fähiger, williger, aber arbeitsloser Menschen zu schaffen. Die Protestierenden, die meisten von ihnen jung, geben einer verlorenen Generation ihre Stimme (...)
„Die Proteste sind aber mehr als eine Jugendrevolte. Die eigenen Probleme der Demonstrierenden sind nur eine Illustration dessen, dass die Wirtschaft nicht für die Masse der AmerikanerInnen funktioniert. Sie haben Recht, wenn sie sagen, dass der Finanzsektor, mit Kontrollorganen, die sich im Einverständnis mit den gewählten PolitikerInnen befinden, eine Kreditblase aufpustete und davon profitierte, bis sie platzte, was Millionen AmerikanerInnen ihre Jobs, Einkommen, Ersparnisse und Wohnungen kostete. So wie die schlechten Zeiten andauern, verlieren die AmerikanerInnen auch ihren Glauben an Wiedergutmachung und Erholung. „Die erste Empörung stand in Verbindung mit den Bankenrettungspaketen und der Gier der PolitikerInnen nach Geld von der Wall Street zur Finanzierung ihrer Wahlkampagnen, eine giftige Mischung, die die wirtschaftliche und politische Macht der Banken gestärkt hat, während das gewöhnliche Volk leidet.“
Es ist ein Mythos, dass die Menschen in den Vereinigten Staaten von Natur aus reaktionär seien. Die Bibel sagt: „Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.“ Das ist pure Dialektik! Eben weil die US-amerikanischen ArbeiterInnen politisch rückständiger waren als die europäischen, können sie jetzt grössere Sprünge machen.
CNBC beklagte, dass die DemonstrantInnen „ihre Freak-Flaggen flattern lassen“ und „mit Lenin im Bunde“ seien. Leider ist dieses Urteil etwas voreilig. Die DemonstrantInnen haben – jedenfalls die meisten – nichts mit Lenin am Hut. Doch sie lernen aus Erfahrungen. Und ein paar Schläge von einem Polizeitrupp lehrt sie mehr über die wahre Natur des kapitalistischen Staats als die Lektüre von „Staat und Revolution“.
Die amerikanischen Werktätigen verfügen über keine Massenpartei, sie tragen damit aber auch nicht die Last einer reformistischen Führung, die ihre Autorität dazu nutzt, die ArbeiterInnen zurückzuhalten, wie das in Europa und sonst wo geschieht. Sie sind frisch und es fehlt ihnen an reformistischen und stalinistischen Vorurteilen. Die amerikanischen Lohnabhängigen können sich also sehr rasch entwickeln, wenn sie sich einmal in Bewegung setzen.
Man kann das schon in der Occupy-Bewegung sehen. Die brutale Polizeirepression, mit der die Bewegung in Oakland konfrontiert war, zeigte, wie sehr sich die herrschende Klasse der USA vor dem revolutionären Potenzial einer solchen Bewegung fürchtet. Ein Anzeichen dessen, was noch kommen kann, sieht man im Aufruf zum Generalstreik als Antwort auf die brutale Polizeirepression, ein sehr positiver Schritt in die richtige Richtung, der ein instinktives Bewusstsein in der Jugend zeigt, sich mit der organisierten ArbeiterInnenschaft vereinigen zu müssen. Das war das erste Mal seit 70 Jahren, dass die Idee eines stadtweiten Generalstreiks offen in den Gewerkschaften in den USA diskutiert wurde.
Die Occupy-Bewegung ist nur die Spitze des Eisbergs einer viel breiteren Widerstandsströmung. Die Niederlage des Anti-Gewerkschaftsgesetzes in einem Referendum in Ohio im November 2011 ist ein weiteres Anzeichen. Die Abstimmung von 61% für die Zurückweisung des Gesetzesentwurfs bedeutet einen grossen Sieg für die organisierte ArbeiterInnenschaft. Das zeigt die wahre Stimmung, die sich unter den Werktätigen in den USA entwickelt.
Es waren Marx und Engels, die die Perspektive einer ArbeiterInnenpartei entwarfen, die die Lohnabhängigen von den Parteien der Bourgeoisie losbrechen sollte. Die Schaffung einer solchen Partei wird in den Vereinigten Staaten ein historisches Ereignis sein. Auch mit einem reformistischen Programm wird sie ein Magnet sein, der gewerkschaftlich organisierte wie auch unorganisierte Beschäftigte, die Jugend, Schwarze, Latinos, Frauen und Arbeitslose anziehen wird. Unter den Bedingungen einer sozialen Krise kann eine US-amerikanische ArbeiterInnenpartei stark nach links gehen und sich in Richtung Zentrismus entwickeln.