Nach dem Brexit-Schock hat Großbritannien bei den Unterhauswahlen an 8. Juni 2017 ein weiteres politisches Erdbeben erlebt. Theresa May steht vor einem Abgrund. Die durch sie ausgerufenen Neuwahlen mündeten für die Konservativen Tories in einem Desaster. Der erwartete politische Erdrutschsieg für die Tories, der in Jahrzehnte konservativer Herrschaft hätte führen sollen, hat sich als Märchen erwiesen. Stattdessen konnten wir beobachten, wie die Regierungsmehrheit der Tories von einer wiedererstarkten Labour-Partei unter Jeremy Corbyn zerstört wurde.
David Cameron spielte und verlor, und nun hat auch Theresa May gespielt – und verloren. Das Ergebnis hat das Land in politische Unsicherheit gestürzt. Es war ein verheerender Schlag für die Tories. 2015 hatten die Konservativen 331 Sitze – jetzt konnten sie nur 318 Sitze gewinnen. Das bedeutet ein „hung parliament“, d.h. ein Parlament ohne eine Mehrheitspartei.
Theresa May versprach eine „starke und stabile“ Regierung, um in die schwierigen Brexit-Verhandlungen gehen zu können. Doch Mays „starkes“ Image liegt nun in Scherben. In Kreisen des Großkapitals hat dies eine Welle der Alarmierung ausgelöst, die sich sofort in der nervösen Reaktion der Märkte ausdrückte. Das britische Pfund fiel um mehr als 2%, ein Verlust sowohl gegenüber dem Dollar als auch gegen den Euro. „Natürlich waren die Märkte für dieses Ergebnis nicht vorbereitet. Es wird nicht sehr positiv aufgenommen, da dies nur noch mehr Unsicherheit bedeutet“, sagte Geoffrey Yu, Leiter des britischen Investitionsbüros UBS Wealth Management.
Diese Wahl war die größte Fehleinschätzung, seit Goliath gegen David im Einzelkampf angetreten ist. Die Maschinerie der Massenmedien wurde angeworfen, um das „starke und stabile“ Image Mays aufzubauen und um gleichzeitig Jeremy Corbyn attackieren, anschwärzen und diskreditieren zu können. Doch je länger die Menschen die mechanische Theresa May sahen, desto weniger mochten sie sie. Auf das Fiasko des verpfuschten Programms zu den Pensionen, das alte Menschen für ihre Gesundheitsversorgung zahlen hätte lassen und die Streichung des winterlichen Heizzuschusses für RentnerInnen beinhaltet hätte, folgte prompt eine würdelose Kehrtwende. Das schreckte viele Tory-KernwählerInnen ab. Um alles noch schlimmer zu machen, hat May abgelehnt, an Fernsehdebatten teilzunehmen und Fragen aus der Bevölkerung direkt zu beantworten. Das hat den Eindruck politischer Feigheit erzeugt.
Nun muss Theresa May um ihr politisches Überleben kämpfen, da ihre Autorität nicht nur durch die Wahl zerstört wurde, sondern auch in ihrer eigenen Partei bereits Rücktrittsaufforderungen laut wurden. Dessen ungeachtet, hat sie sich für eine konservative Minderheitsregierung entschieden (offenbar von der Parteispitze angestachelt, die Angst vor der Alternative hat). Diese Minderheitsregierung wurde allerdings nur durch eine faule Abmachung mit der Democratic Unionist Party (DUP, protestantisch-konservative Partei in Nordirland) möglich gemacht, deren zehn Sitze zumindest für kurze Zeit Mays politisches Überleben sichern könnten.
Aber die DUP wird sich ihre Unterstützung gut bezahlen lassen. Die Koalitionsparteien haben durchaus ihre Differenzen und diese Regierung wird in den Turbulenzen der kommenden Periode schwerlich durchhalten können. „In jedem Fall bedeutet dieses Abkommen, dass Theresa May über eine Vielzahl von höchst unterschiedlichen Interessen regieren muss“, zeigten die Financial Times auf.
Während des Wahlkampfs hat May gewarnt, dass eine Corbyn-Regierung eine „Koalition des Chaos“ bedeuten würde. Das ist eine passende Beschreibung für jene wacklige Regierung, die sie selbst gerade versucht zu bilden. Es wird eine Regierung der Krisen und nur von kurzer Dauer sein. Schon das katastrophale Wahlergebnis hat die Tories in eine Krise schlittern lassen. Die konservative Abgeordnete Anna Soubry erklärte, Premierministerin May solle „ihre Position überdenken“, nachdem sie eine „desaströse Kampagne“ gefahren habe.
Hinter den Kulissen bringen sich Leute wie Boris Johnson schon für den Spitzenjob in Stellung. Die Messer wurden bereits gezückt, aber die Möchtegern-Mörder haben Bedenken, schon jetzt den Schlag durchzuführen, um nicht einen politischen Bürgerkrieg und eine Spaltung in der Tory Party herbeizuführen. Deshalb sind sie vorläufig an die diskreditierte und unbeliebte Theresa May gebunden und müssen auf einen besseren Zeitpunkt warten, um eine Neuwahl um den Vorsitz starten zu können. Doch nur wenige seriöse Beobachter glauben, dass dieser wacklige Waffenstillstand bis nach der Sommerpause halten wird.
Corbyns Sieg
Der tatsächliche Sieger dieser Wahl ist Jeremy Corbyn, und dies entgegen aller Erwartungen. Die gesamte koservative Presse und das Establishment standen geschlossen hinter Theresa May. Als sie die Wahlen ausrief, bezeichneten Zeitungen wie „The Sun“ May als „die neue Maggie“ (Thatcher), die die Labour Party zerstören würde.
Einen Tag vor den Wahlen verwendete „The Daily Mail“ 13 Seiten darauf, um Corbyn in der schmutzigsten Art und Weise in den Dreck zu ziehen. Sie nahmen die Terrorattacken in Machester und London zum Anlass, Corbyn in die Nähe des Terrorismus zu rücken. Die Zeitungs-Barone, die glaubten die öffentliche Meinung formen zu können, wurden eines Besseren belehrt.
Die Meinungsumfragen haben einen Tory-Überhang von bis zu 150 Parlamentssitzen vorausgesagt. Diese Erwartungen konnten nicht erfüllt werden. Sogar noch als die Umfragen heraus waren, haben die Experten des Establishments einen grossen Wahlerfolg für die Torries und einen krachende Niederlage für Corbyn vorausgesagt. Aber die ganze Kampagne fiel auf sie selbst zurück. Die ersten Nachwahlbefragungen machten die Tories fassungslos, als ihnen die Gewissheit ihrer Niederlage dämmerte, waren ihre Gesichter von Schock und Verzweiflung gezeichnet.
Zu den untergriffigen und hasserfüllten Angriffen des kapitalitischen Establishments und seiner Medien kamen noch die Angriffe aus der Labour Partei selbst. Der rechte Parteiflügel hat permanent vorausgesagt, dass Labour eine historische Wahlnierlage einfahren wird, so wie gegen Thatcher in den 1980iger Jahren. Es kann absolut keinen Zweifel geben, dass die Blairisten in der Parlamentsfraktion genau so eine Niederlage sehen wollten, um einen erneuten Versuch zu starten, Corbyn als Parteivorsitzenden abzusetzen. Aber ihre Manöver gingen ins Leere.
Entgegen aller Erwartungen hat Labour eines der spektakulärsten Comebacks der politischen Geschichte des Landes hingelegt. Die Partei hat Parlamentssitze hinzugewonnen, während ihr heftige Verluste vorausgesagt wurden. Signifikanter noch als die Anzahl der eroberten Parlamentssitze sind die 40 % der erreichten Wählerstimmen. Das sind 10 Prozentpunkte mehr als der ehemalige Vorsitzende Ed Miliband bei den letzen Parlamentswahlen erzielen konnte, als Labour besiegt wurde. Diese 40 % sind auch mehr als Gordon Brown und sogar mehr als Tony Blair 2005 erzielen konnte. Und es waren auf alle Fälle mehr als Neil Kinnock, der die „schmetternde Niederlage Corbyns“ herbeigeredet hat, jemals erreichen konnte.
Das zeigt, dass das Wahlprogramm von Labour « For the many, not the few » (Für die Vielen, nicht die Wenigen) extrem populär ist. Dieses Wahlprogramm links von allen seit 1950 und beinhaltet unter anderem die Forderungen nach der Verstaatlichung der Post, der Eisenbahnen und andere Infrastrukturbetriebe. Dieses Wahlprogramm hat die Parteibasis elektrisiert und Enthusiasmus unter den Massen geweckt, speziell in der Jugend, die überwiegend Labour gewählt hat. Das Wahlergebnis von Labour ist ein monumentaler Erfolg, der alle Kritiker Corbyns zum Schweigen verdammt.
Millionen Wahlberechtigte strömten an die Urnen und haben die Wahlbeteiligung auf ein 25-jähriges Hoch getrieben. Das Grund dafür lag in der Kampagne von Massenveranstaltungen, dem linken Wahlprogramm und der Beteiligung von tausenden Jugendlichen. Zu Beginn des Wahlkampfes lag Labour noch 20 Prozentpunkte hinter den Konservativen, doch durch die enthusiastisch geführte Kampagne schmolz die Führung der Tories innerhalb von wenigen Wochen zusammen. Speziell die Jugend ging ins Lager von Labour über. Von den 18 bis 24 Jährigen haben 71% Corbyn und nur 15% die Tories gewählt, so das Ergebnis der Meinungsumfrage von YouGov. Die allgemeine Beteiligung der Jugend an den Wahlen ist die höchste seit den Wahlen von 1987.
Die Stimmung an den Massenversammlungen von Labour war elektrisierend, speziell wenn Corbyn sprach. Er schaffte es, an der realen Stimmung der Unzufriedenheit in der Gesellschaft anzudocken, so wie Sanders es zuvor in den USA getan hatte. Die politischen Experten werden mit offenen Mündern zurückgelassen.
Die Tories wurden von Labour an Orten besiegt, wo niemand dies erwartet hätte. Ein Beispiel dafür ist Canterbury, das seit einem Jahrhundert eine felsenfeste Hochburg der Konservativen war, mit einem üblichen Stimmenüberhang von über 10.000. Doch diesmal registrierten sich 8.000 neue WählerInnen, hauptsächlich Jungendliche, die letztendlich den Unterschied machten. Labour gelang es fast, Amber Rudd, die Innenministerin, in Hastings zu besiegen. Das überraschendeste Ergebnis überhaupt ist, dass Labour den eigentlich sicheren Sitz der Konservativen im Wahlbezirk Kensington (London) erobert hat. Dort war die Wahl so knapp, dass die Auszählung zwei mal wiederholt werden musste.
Labour hat im ganzen Land Zugewinne eingefahren. Sie hat nun eine Mehrheit in Vale of Clwyd in Wales, Battersea, Stockton South und vielen andern Wahlbezirken errungen. Acht Tory-MinisterInnen wurden insgesamt abgewählt.
Die Liberaldemokraten (LibDems) wurden zwischen den Konservativen und Labour zerrieben. Nick Clegg, der ehemalige Vorsitzende der Liberalen und Vizepremier, wurde in Sheffield ganz unzeremoniell abgewählt, eine passende Antwort auf seine lange Liste an gebrochenen Versprechen.
Ironischerweise war das einzige, das May in dieser Situation rettete, die Wiederbelebung der Tories in Schottland, wo die Konservativen mit ihrem Ruf nach der „Einheit Grossbritanniens“ in einigen Schichten der Bevölkerung punkten konnten. Diese Demagogie und eine gewisse Unsicherheit auf Seiten der SNP (Scottish National Party, Schottische Nationalpartei) führte zu einem Wechsel von zwölf schottischen Parlamentssitzen zu den Konservativen. Die SNP verlor 13 Prozent der Wählerstimmen, meist zu den Konservativen, die 14 % dazugewannen. Auch Labour erlebte hier einen kleinen Aufschwung von 3 %, hauptsächlich dank des Corbyn-Effekts, was die blairistische Führung von Labour in Schottland nur zähneknirschend eingestehen wird.
In Wales sagte eine Meinungsumfrage nach der Ausrufung der vorgezogenen Neuwahlen einen 10-prozentigen Vorsprung für die Konservativen voraus. May war so überzeugt davon, die traditionelle Labour-Hochburg zu erobern, dass sie im Wahlkampf dreimal in die Region reiste. Aber sobald Labour die Wahlkampagne startete, mussten die konservativen Hoffnungen begraben werden. Wales bleibt solide in der Hand von Labour.
Die rechte migrantenfeindliche Partei UKIP ist kollabiert. Aber die Idee, dass diese WählerInnen automatisch zu den Konservativen gingen wurde widerlegt. Viele gingen zu Labour, angezogen vom Auftreten gegen die Sparpolitik. Am Ende war auch das Thema Brexit nicht entscheidend, reale soziale Probleme wie Arbeit, Pensionen, Arbeitslosigkeit und das Gesundheitssystem wogen schwerer.
Die Mehrheit der Labour-ParlamentarierInnen stehen Corbyn feindlich gegenüber. Sie haben bei jeder Gelegenheit versucht ihn los zu werden, sogar eine Misstrauensabstimmung herbeigeführt und einen Putsch gegen ihn gestartet. Die KandidatInnen des rechten Flügels haben bei diesen Wahlen regionales Material herausgegeben, wo sie sich nur als „lokale Labour“ bezeichnet haben und Corbyn und sein Programm völlig verschwiegen haben. Einige sind sogar so weit gegangen Flugblätter zu verteilen, worin sie erklärten, dass May die Wahlen gewinnen würde und Corbyn niemals Premierminster werden würde. Diese Leute haben die Wahlkampagne von Labour offen sabotiert.
Diese Strategie ist fehlgeschlagen. Der Rechte Parteiflügel muss die neue Situation nun erstmal verdauen. Sie können momentan nichts anders tun als eine neue Gelegenheit abzuwarten und vorerst den Erflog von Corbyns Kampagne zähneknirschend anzuerkennen. Jack Straw, Tom Watson, Peter Hain, Margaret Becket und andere müssen sich nun widerwillig etwas zusammenreissen und ein paar Gesten in Richtung Jeremy Corbyn machen. Aber das ist alles nur Fassade. Hinter den Kulissen gehen alle Verschwörungen weiter, der rechte Flügel wird niemals damit aufgeben zu versuchen, Corbyn zu untergraben.
Jene KommentatorInnen, die die Labour Party abgeschrieben haben, greifen sich nun an ihre Köpfe. Dies hätte in ihren Augen niemals passieren dürfen. Linke Politik war doch angeblich völlig unpopulär! Owen Jones, „linker“ Journalist der Zeitung Guardian, vertrat diese Meinung bis zum Wahlabend, jetzt jedoch singt auch er eine andere Melodie.
Die wichtigste Erkenntnis ist, dass das Pendel des politischen Lebens Großbritanniens scharf nach links geschwenkt ist. Ein Programm von ziemlich radikalen Reformen, das auch Verstaatlichungen beinhaltet, hat das Bewusstsein großer Teile der Gesellschaft erfasst. Ideen, die man fast für vergessen hielt, sind nun wieder auf der politischen Tagesordnung. New Labour and der Blairismus wurden in die Defensive gedrängt.
Das Wahlergebnis wird Corbyns Autorität in einer wiederbelebten Labour-Partei stärken. Im Wahlkampf sind wieder 100.000 Menschen beigetreten, nunmehr zählt die Partei über 600.000 Mitglieder. Das wird die Linke in der Partei stärken. In Wirklichkeit gibt es zwei Labour-Parteien: einerseits die Masse der Mitglieder, die Corbyn stützen und auf der anderen Seite der rechte Flügel, der die Parlamentsfraktion und den Parteiapparat dominiert.
Diese Situation kann so nicht lange anhalten. Corbyn sollte diese Sabotageakte nicht weiter zulassen. Er sollte das Recht der Basis bekräftigen und wieder einführen, alle ParlamentskandidatInnen demokratisch aufzustellen, um damit die „fünfte Kolonne“ der KarrieristInnen und verdeckten Tories in der Partei ein für alle mal zu entfernen, die die Partei von Innen sabotieren.
Nach diesen Wahlen findet sich Grossbritannien in unerforschten Gewässern wieder. Schwierige Brexit-Verhandlungen stehen bevor. Das politische Leben des Landes ist so polarisiert zwischen Links und Rechts, wie das seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr der Fall war. Das ist ein Alarmsignal für die StrategInnen des Kapitals.
Die beiden Hauptparteien des Landes, Labour und die konservativen Tories, vereinen jetzt über 80% der Stimmen auf sich - etwas, das es seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben hat. Die Tories orientieren sich immer mehr nach rechts und die Labour-Partei unter Corbyn steuert nach links. Diese politische Polarisierung ist eine Widerspiegelung der steigenden Polarisierung zwischen den verschiedenen Klassen innerhalb der britischen Gesellschaft. Die politische „Mitte“, die durch die LibDems repräsentiert wird, wird durch diese Polarisierung zerstört.
Wir befinden uns in einer Periode tiefer politischer, wirtschaftlicher und sozialer Instabilität. Sogar wenn es die Tories schaffen, mit der DUP ein Abkommen abzuschließen, wird eine konservative Minderheitsregierung nicht lange überleben. Sie wird sicherlich nicht die ganze Wahlperiode überstehen. Der Druck von außerhalb des Parlaments wird steigen, eine Bewegung nach der anderen wird sich gegen die Regierung richten. Die Tories werden sich vollständig diskreditieren.
Eher früher als später werden Neuwahlen auf der Tagesordnung stehen. Die politische Krise ist eine Widerspiegelung der kapitalistischen Krise die 2008 begonnen hat und noch weiter anhält. Das alles wird scharfe und schnelle Wendungen in der Situation hervorrufen, neue Möglichkeiten für Labour und die Linke werden sich auftun. Das ganze politische Klima hat sich grundlegend verändert.
Der Kapitalismus bietet keine Lösung für die arbeitenden Menschen und es wird sich immer dringlicher die Notwendigkeit zeigen, die Gesellschaft grundlegend zu verändern. In der kommenden Zeit wird die Unterstützung für die Ideen des Sozialismus und des Marxismus massiv ansteigen. Ein aufregendes neues Kapitel liegt vor uns.