Tunesien: Streitkräfte und Polizei gehen brutal gegen Streikende und Jugendliche vor

Die Zusammenstöße zwischen den Streitkräften und Demonstranten gehen auch am vierten Tag des vom Gewerkschaftsbund UGTT geführten Generalstreiks in der Stadt Siliana weiter. Die Auseinandersetzungen, bei denen bisher 300 Beteiligte verletzt wurden, sind zu einem Kristallisationspunkt für die Menschen in ganz Tunesien geworden.

Tausende gingen heute auf die Autobahn zwischen Siliana und Tunis und beteiligten sich an einer zehn Kilometer langen symbolischen Demonstration in Richtung Tunis. Heute, wie auch an den Vortagen, gingen Tausende auf die Straße. Die Demonstranten fordern die Absetzung von Ahmed Zine Mahjoubi, dem Gouverneur von Siliana und Maßnahmen gegen die in der Region bestehende große Armut und Arbeitslosigkeit. Außerdem fordern sie die Freilassung von 14 Menschen, die vor 20 Monaten verhaftet wurden und seit diesem Zeitpunkt ohne Gerichtsverfahren in Haft gehalten werden.

Am Donnerstag setzte die Nationalgarde gepanzerte Fahrzeuge ein, nachdem die Demonstranten auf den Straßen provisorische Barrikaden errichtet hatten. Am Freitagmorgen waren die Straßen übersät mit Steinen und verkohlten Reste von den Barrikaden, die an den Vortagen aufgestellt worden waren. Anwohner errichteten auch Straßensperren auf der Autobahn Richtung Tunis.

Ein Teilnehmer der Aktionen erklärte der Nachrichtenagentur AP: "Ich habe einen Hochschulabschluss, aber seit 2009 keine Arbeit. Ich nehme an der Demonstration teil, um Druck auf die Behörden auszuüben, damit Lösungen für unsere sozialen Probleme gefunden werden und diejenigen bestraft werden, die Demonstranten erschossen und blind gemacht haben."

Die Polizei und Armeeeinheiten haben mit Schrotmunition geschossen, 15 Menschen wurden dadurch verletzt und laufen jetzt Gefahr zu erblinden. Innenminister Ali Laarayed begründete den Einsatz von staatlicher Gewalt mit den tätlichen Angriffen von Einwohnern Silianas, er erklärte, die Sicherheitskräfte seien gezwungen Schrotmunition zu benutzen, um sich selbst zu verteidigen.

David Thomson; Reporter von France 24, der zu den Journalisten gehörte, die ebenfalls attackiert wurden, hat eine andere Sichtweise von den Ereignissen: "Die Sicherheitskräfte wandten unverhältnismäßige Gewalt an. Ich sehe nicht die Notwendigkeit Feuerwaffen einzusetzen, vor allem nicht, wenn die Demonstranten weder Molotowcocktails noch Tränengas benutzt haben. Diese jungen Menschen wollen nur ihre soziale Lage verbessern und Arbeitsplätze."

Am Donnerstag kamen auch Menschen aus den Nachbarstädten, um sich dem Marsch anzuschließen, außerdem gab es in der gesamten Provinz Solidaritätsdemonstrationen mit Siliana, auch hier wurden Polizeiposten und Büros der Ennahda Partei angegriffen. Heute wurde auch eine Delegation aus Sidi Bouzid erwartet, der Stadt, in der die ersten Proteste der arabischen Revolution stattfanden.

Laut Augenzeugen aus Gaafour, nördlich von Siliana, warfen Demonstranten Steine auf Polizisten und Armeefahrzeuge, die Kurs auf die Stadt nahmen und zwangen sie so zur Umkehr. In der Stadt Kesra sollen Demonstranten einen Sicherheitsposten und zwei Polizeifahrzeuge angegriffen und in Brand gesetzt haben. Ebenfalls wurden Büros der regierenden islamistischen Ennahda Partei angegriffen und Dokumente verbrannt.

Es kam auch in anderen Städtenzu Solidaritätsaktionen, so in Mahdia, Sfax und Tunis. In Tunis versammelten sich Hunderte mehrere Tage vor dem Innenministerium im Zentrum der Stadt und riefen 'dégage' (verschwindet), die Losung, die ursprünglich gegen den gestürzten Diktator Ben Ali zu Beginn der tunesischen Revolution gerufen wurde.

Eines der wichtigsten Anliegen, die von den Demonstranten vorgebracht wurden, ist die chronische Misswirtschaft bei den Entwicklungshilfegeldern für arme Agrarregionen, besonders bei den Arbeitslosigkeitsprogrammen. In Siliana, das ca. zwei Autostunden südlich von Tunis am Rande der Sahara liegt, gingen die Investitionen von Januar bis Oktober um 44,5% gegenüber dem Vorjahr zurück. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50%, die Situation hat sich seit der Revolution 2011 noch verschlechtert.

Am Donnerstag wandte sich Interimspremierminister Hamali Jebali in einer im Fernsehen übertragenen Botschaft an die Demonstranten, in der er die Entlassung des Gouverneurs von Siliana ablehnte und die Menschen aufforderte, 'realistisch' zu sein und nicht zu erwarten, dass die Wirtschaftskrise sofort gelöst werden könne. "Glauben Sie denn, dass in Regionen, in den die Gewalt herrscht, investiert wird?" fragte er und fuhr fort: "Wir sind alle Verlierer."

Es ist offensichtlich, dass nicht alle Tunesier Verlierer sind. Es gibt einen enormen Kontrast zwischen dem Luxusleben der Kapitalisten und Ennahda-Politiker in Tunis und den armen arbeitslosen Jugendlichen im mittleren Tunesien. Aber Jebali spricht gleichzeitig eine gewisse Wahrheit aus, denn der tunesische Kapitalismus kann es sich nicht leisten den Lebensstandard zu erhöhen und das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. Der einzige Weg nach vorn erfordert den Bruch mit dem System und die Enteignung der Kommandohöhen der Wirtschaft, die weiterhin in den Händen der alten Herrscher im Land sind.

Jebali wies auch erneute Rufe nach einer zweiten Revolution zurück und behauptete, dass ein demokratisch gewähltes Parlament rechtmäßig sei und nicht durch eine Revolution gestürzt werden dürfe. Er sagte weiter: " Was bedeutet es, wenn ihr zum Gouverneur sagt 'dégage'? Ihr wollt, dass die aktuelle Regierung zurücktritt. Wenn ihr zur Regierung 'dégage' sagt, bedeutet das Chaos.

Daraufhin twitterte ein Aktivist: "Monsieur Jebali dieses 'dégage' hat sie an die Macht gebracht und aus den Gefängnissen geholt und wenn es dieses 'dégage' nicht gegeben hätte, hätten Sie diese Rede nicht halten können, Monsieur 'Rechtmäßig'.

Es ist offensichtlich, dass die tunesische Bourgeoise taktieren wird, um die Revolution zu verraten, aber die tunesischen Massen sind sich ihrer Macht bewusst. Sie erinnern sich noch gut daran, wer Ben Ali gestürzt hat und sie wissen, dass sie es erneut können.

Hamid Alizadeh, 30. November 2012

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