Teil 1 des Manifests zur Arabischen Revolution der Internationalen Marxistischen Strömung
Die Arabische Revolution ist für die arbeitenden Menschen und Jugendlichen auf der ganzen Welt eine Quelle der Inspiration. Sie hat jedes Land im Nahen Osten bis auf die Grundfesten erschüttert. Die Auswirkungen dieser Bewegung sind weltweit zu spüren. Die dramatischen Ereignisse in Nordafrika markieren einen entscheidenden Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte. Hier handelt es sich nicht um isolierte, zufällige Ereignisse: Es ist nicht weniger als der erste Akt der sozialistischen Weltrevolution. Es handelt sich um einen allgemeinen Prozess: Wenn auch in unterschiedlichen Rhythmen, wird er sich über den gesamten Globus ausbreiten. Ebbe und Flut werden sich abwechseln, Niederlage und Sieg, Enttäuschung und Erfolg. Die allgemeine Entwicklung begünstigt jedoch eindeutig die Zunahme von Klassenkämpfen.
Die beeindruckenden Massenbewegungen in Tunesien und Ägypten waren erst der Anfang. Revolutionäre Entwicklungen stehen auf der Tagesordnung, und kein Land wird davon ausgenommen sein. Die Revolutionen in der arabischen Welt sind Ausdruck der Krise des internationalen Kapitalismus. In diesen Ereignissen können die entwickelten kapitalistischen Länder bereits ihre Zukunft sehen.
Tunesien
Tunesien erschien lange Zeit als das stabilste Land der arabischen Welt. Die Wirtschaft florierte, ausländische InvestorInnen machten fette Profite. Präsident Zine al-Abidine Ben Ali herrschte mit eiserner Hand. Es schien die beste aller möglichen kapitalistischen Welten.
Die bürgerlichen KommentatorInnen betrachteten aber nur die Oberfläche – sie waren außerstande, die Prozesse in den Tiefen der Gesellschaft zu sehen. Deshalb waren sie auch blind gegenüber den Entwicklungen in Nordafrika. Aus ihrer Sicht war die Möglichkeit einer Revolution in Tunesien völlig ausgeschlossen. Umso perplexer sind heute die bürgerliche StrategInnen, WirtschaftswissenschaftlerInnen und andere „ExpertInnen“.
Ausgelöst wurde die Revolution durch die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, einem jungen Arbeitslosen. Laut Hegel drückt sich die historische Notwendigkeit oft in einem zufälligen Ereignis aus. Es war nicht der erste Fall eines Selbstmordes durch einen völlig verzweifelten jungen Menschen in Tunesien. Doch diesmal hatte dieser Akt der Verzweiflung unerwartete Folgen: Die Massen strömten auf die Straßen, die Revolution nahm ihren Lauf.
In einer ersten Reaktion versuchte das Regime die Rebellion mit Gewalt zu zerschlagen. Doch auch durch die starke Polizeirepression konnten die Proteste nicht gestoppt werden. Bald schon wurde den MachthaberInnen klar: Beim nächsten blutigen Zusammenstoß droht die Spaltung der Armee. Daher ging man dazu über, die Lage mit Zugeständnissen zu befrieden – doch dafür war es bereits zu spät.
Es kam zu einer Welle von regionalen Generalstreiks, die schließlich in einem landesweiten Streiktag mündete. Das war der Punkt, an dem sich Ben Ali gezwungen sah, nach Saudi-Arabien zu fliehen. Die gesamte Lage in der Region war wie verwandelt: Es war der erste Sieg der Arabischen Revolution.
Als Ben Ali floh, herrschte für kurze Zeit ein Machtvakuum. Dieses wurde in vielen Städten, Dörfern und teilweise sogar in ganzen Regionen von revolutionären Komitees gefüllt. In Redeyef oder in der Bergbauregion von Gafsa gab es keine staatliche Autorität mehr. Hier hatte nun die Gewerkschaft das Sagen. Polizeistationen wurden niedergebrannt, das Rathaus von der Gewerkschaft übernommen. Auf dem Hauptplatz wurden Massenversammlungen abgehalten, wo die lokalen Gewerkschaftsvorsitzenden der Bewegung die nächsten Schritte vorschlugen. Es wurden Komitees eingerichtet, die den Verkehr, die öffentliche Sicherheit, öffentliche Dienstleistungen usw. sicherstellen sollten.
Diese ersten Erfolge stellten die breite Masse der Bevölkerung aber bei weitem nicht zufrieden. Immer wieder gingen sie gegen alle Versuche, die alte Ordnung unter einem anderen Namen wiederzuerrichten, auf die Straße. Die alten Parteien sind in der Bevölkerung weitgehend diskreditiert. Als Ministerpräsident Gannouchi in den Regionen neue Gouverneure einsetzen wollte, kam es neuerlich zu riesigen Protesten, bis diese wieder abgesetzt wurden.
Die Lava der Revolution ist in Tunesien noch nicht abgekühlt. Die ArbeiterInnen fordern die Beschlagnahmung des Vermögens der Familie Ben Alis. Und nachdem dieser Clan große Bereiche der Wirtschaft kontrollierte, bedeutet dies allein schon eine direkte Herausforderung für die kapitalistische Ordnung in Tunesien. Die Losung nach der Enteignung der Clique rund um Ben Ali ist eine zutiefst sozialistische Forderung.
Die Belegschaften haben in vielen Betrieben unpopuläre ManagerInnen hinausgeworfen. Die linke „Front des 14. Jänners“ propagierte die Einberufung einer nationalen Versammlung der revolutionären Komitees. Das ist eine sehr wichtige Forderung – doch leider wurden bis jetzt keine konkreten Schritte in diese Richtung gesetzt.
Dennoch: Trotz des Fehlens einer echten Führung gelang es der Bewegung, Ministerpräsident Gannouchi zum Rücktritt zwingen. Unser Slogan muss lauten: thawra hatta'l nasr! - Revolution bis zum Sieg!
Die Ägyptische Revolution
Tunesien eröffnete die Arabische Revolution. Doch es ist letztlich ein kleines Land – Ägypten hingegen ist der Schlüssel zur gesamten Region. Mit 82 Millionen EinwohnerInnen stellt es das Herz der arabischen Welt dar. Das ägyptische Proletariat ist zahlenmäßig sehr stark und verfügt über eine sehr klassenkämpferische Tradition. Die Ägyptische Revolution wurde zweifelsohne durch den Sieg der Protestbewegung in Tunesien beflügelt, doch sie nährte sich aus einer Reihe von anderen Kräften: der Unzufriedenheit über die hohe Arbeitslosigkeit, den fallenden Lebensstandard und eine korrupte Regierung, die mit eiserner Faust regierte.
Die Revolution in Tunesien wirkte wie ein Katalysator. Katalysatoren können aber nur dann ihre Funktion erfüllen, wenn alle anderen notwendigen Bedingungen gegeben sind. In Tunesien zeigte die revolutionäre Bewegung, was möglich ist. Doch es ist falsch zu glauben, sie wäre die entscheidende Ursache für die Ereignisse in Ägypten gewesen. Vielmehr waren die Bedingungen für eine revolutionäre Explosion in all diesen Ländern bereits herangereift. Es fehlte nur noch der entscheidende Funke, der das Pulverfass entzünden sollte. Und dieser Funke kam aus Tunesien.
Die Bewegung in Ägypten war gekennzeichnet vom unvorstellbaren Heroismus der Massen. Die Sicherheitskräfte konnten nicht mit scharfer Munition gegen die Demonstrationen auf dem Tahrir-Platz vorgehen, weil das Regime ein Szenario wie in Tunesien fürchtete. Man war der Meinung, es würde wie in der Vergangenheit ausreichen, den Kopf der Protestbewegung zu zerschlagen. Doch diesmal sollte dies nicht genügen: Quantität war in eine neue Qualität umgeschlagen, die Menschen hatten ihre Furcht verloren. Plötzlich musste die Polizei im Angesicht der Entschlossenheit der DemonstrantInnen die Flucht ergreifen.
Das direkte Ergebnis war die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo. Das Regime schickte daraufhin die Armee auf die Straßen, doch die einfachen Soldaten verbrüderten sich mit den Massen. Die ägyptische Armee basiert auf der allgemeinen Wehrpflicht. Die hohen Offiziersränge, die Generäle sind korrupt und fixer Bestandteil des Regimes, doch die gewöhnlichen Rekruten sind Arbeiter und arme Bauern. Selbst die unteren und mittleren Offiziersränge, aus der Mittelschicht kommend, zeigten sich nicht gegen den Druck der Massen immun.
Die Oppositionsparteien forderten Reformen und die Auflösung des Parlaments, das erst im vergangenen Dezember nach gefälschten Wahlen neu zusammengetreten war. Neuwahlen sollten ausgerufen werden, und Staatspräsident Mubarak sowie sein Sohn sollten eine Erklärung abgeben, dass sie bei den Präsidentschaftswahlen im September nicht antreten werden. Doch die Führung der Opposition hinkte mit diesem Programm weit hinter den Forderungen der Massen her. Die Bewegung begnügte sich bei weitem nicht mit diesen Losungen. Die Menschen begannen mit ganz grundlegenden Forderungen – Beendigung des Ausnahmezustands, Entlassung des Innenministers, höhere Mindestlöhne – um in der Folge den Sturz von Mubarak und die vollständige Auflösung seines Regimes zu fordern. Das Bewusstsein machte binnen kürzester Zeit gewaltige Sprünge.
Staat und Revolution
Die breiten Massen stellten von Anfang an den Motor der Ereignisse in Tunesien und Ägypten dar. Bürgerliche und kleinbürgerliche “ExpertInnen” geben sich jetzt alle Mühe, gerade die Bedeutung der Massenaktionen kleinzureden. Sie schenken vor allem dem Geschehen an der Spitze des Staates ihre Aufmerksamkeit. Aus ihrer Sicht war der Sturz der Diktatoren nicht viel mehr als ein „Putsch“. Wir kennen diese Erklärungsversuche bürgerlicher HistorikerInnen in Bezug auf die Russische Revolution von 1917.
Ihre Analysen bleiben rein an der Oberfläche stehen. Für die bürgerliche Philosophie im Allgemeinen existiert alles bloß als rein äußerliches Phänomen. Es ist wie der Versuch, die Bewegung von Meereswellen verstehen zu wollen, ohne die submarinen Strömungen der Ozeane zu studieren. Selbst als Kairo schon von Massendemos erschüttert wurde, hielt Hillary Clinton an der Meinung fest, Ägypten sei „stabil“. Sie stützte ihre Aussage auf die Tatsache, dass der Staat und sein Repressionsapparat noch intakt waren. Nur zwei Wochen später sollte alles anders sein.
Ein mächtiger staatlicher Unterdrückungsapparat ist kein Garant gegen eine Revolution. Unter Umständen ist gerade das Gegenteil der Fall. In einer bürgerlichen, parlamentarischen Demokratie verfügt die herrschende Klasse über gewisse Sicherheitsventile für den Fall, dass die Lage außer Kontrolle gerät. In einer Diktatur, einem totalitären Regime, haben die Menschen keine Möglichkeit, ihrer Meinung im Rahmen des politischen Systems Ausdruck zu verleihen. Deshalb können politische Erschütterungen abrupt auftreten und sofort eine sehr scharfe Form annehmen.
Die Streitkräfte stellten die wichtigste Basis des alten Regimes dar. Auf dem Papier stellte diese Armee eine eindrucksvolle Kraft dar. Doch wie jede andere Armee spiegelte sie die Gesellschaft wider und geriet ab einem gewissen Punkt unter den Einfluss der Massen. Armeen setzen sich aus Menschen aus Fleisch und Blut zusammen und sind dem selben Druck wie jede andere soziale Schicht ausgesetzt. Im entscheidenden Moment konnten weder Mubarak noch Ben Ali die Armee gegen die Bevölkerung einsetzen.
Die Armeen in vielen arabischen Ländern sind nicht mit den Streitkräften in der entwickelten kapitalistischen Welt zu vergleichen. Letztlich handelt es sich zwar um kapitalistische Armeen, um Einheiten bewaffneter Menschen zur Verteidigung des Privateigentums, sie sind aber auch das Produkt der anti-kolonialen Revolution. Die Generäle spielen natürlich eine reaktionäre Rolle, doch die unteren und mittleren Offiziersränge spiegeln den Druck der Massen wider, wie sich auch 1952 im Putsch von Nasser gezeigt hat.
Die Revolution führte zu einer Krise im Staatsapparat. Es kam zu Spannungen zwischen der Armee und der Polizei, die offen gegen die Proteste vorging. Dies führte letztendlich zu einem Punkt, an dem der Armeerat zu der Schlussfolgerung kam, dass Mubarak zum Rücktritt gezwungen werden musste. Unter dem Druck der breiten Massen hatte sich der Gärungsprozess in der Armee verstärkt. Es drohte die Spaltung der Armee. In mehreren Fällen warfen Offiziere die Waffen weg und schlossen sich den Demonstranten an. Das war eine Situation, in der die Armee nicht länger gegen das revolutionäre Volk eingesetzt werden konnte.
Die Rolle des Proletariats
In den ersten beiden Wochen lag die Macht auf den Straßen. Doch die Führung der Bewegung wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Es herrschte die Vorstellung vor, dass es ausreiche, große Menschenmengen auf dem Tahrir-Platz zu versammeln. Damit wurde aber die entscheidende Frage der Staatsmacht außer Acht gelassen. Es handelte sich um eine rein passive Strategie, dabei hätte die Situation eine Offensivstrategie verlangt.
Ben Ali wurde durch Massendemonstrationen ins Exil gezwungen, die Regierungspartei RCD gestürzt. Daraus folgerten viele Menschen in Ägypten, das Regime von Mubarak sei ebenso instabil. Das Problem war jedoch, dass Mubarak sich weigerte zu gehen. Die Anstrengungen und der Mut unzähliger DemonstrantInnen waren fast übermenschlich. Dennoch gelang es nicht, Mubarak zu stürzen. Großdemonstrationen sind von großer Bedeutung, weil sie die für gewöhnlich träge Masse mobilisieren, sie zusammenführen und ihr auf diesem Weg ein Gefühl für die eigene Stärke geben. Um jedoch siegen zu können, musste die Bewegung auf eine neue, höhere Ebene gehoben werden. Dazu war jedoch nur das Proletariat imstande: Das Erwachen der ArbeiterInnenklasse drückte sich bereits in den vergangenen Jahren durch eine Welle von Streiks und Protesten aus. Dies war einer der wichtigsten Faktoren, die die Revolution vorbereitet haben – und darin liegt auch der Schlüssel zu ihren künftigen Erfolgen. Indem das ägyptische Proletariat die Bühne der Geschichte betreten hat, gab es dem Verlauf der Revolution eine neue Wende. Erst eine Streikwelle rettete die Revolution und führte zum Sturz Mubaraks. In einer Stadt nach der anderen traten ArbeiterInnen in den Streik, besetzten Betriebe, verjagten verhasste ManagerInnen und korrupte GewerkschaftsfunktionärInnen.
Die Revolution machte einen qualitativen Sprung. Aus einer großen Demonstration wurde plötzlich ein Aufstand. Welche Schlussfolgerung können wir daraus ziehen? Nur eine: Dass der Kampf um Demokratie nur in dem Maße erfolgreich sein kann, als sich das Proletariat an die Spitze dieser Bewegung stellt. Die entscheidende Rolle haben die Millionen ArbeiterInnen inne, die den gesellschaftlichen Reichtum produzieren und ohne deren Erlaubnis keine Glühbirne leuchtet, kein Telefon klingelt und kein Rad sich dreht.
Das Wiedererwachen der ägyptischen Nation
Der Marxismus hat nichts mit ökonomischem Determinismus gemein. Massenarbeitslosigkeit und Armut stellen ein explosives Gemisch dar – das allein kann aber die revolutionäre Situation in der arabischen Welt nicht erklären. Es gab eine weitere Ursache: Etwas, das nicht so leicht zu fassen und zu messen ist, aber in nicht geringerem Maße zur vorherrschenden Unzufriedenheit beitrug als die materielle Not. Es ist das brennende Gefühl der Erniedrigung in den Herzen und Köpfen eines Volkes, das auf eine lange Geschichte zurückblicken kann, aber seit Generationen vom Imperialismus beherrscht wird.
In der gesamten arabischen Welt, die seit mehr als 100 Jahren vom Imperialismus versklavt und unterdrückt wird, herrscht dieses Gefühl vor. Zuerst waren es die europäischen Großmächte, dann der transatlantische Riese, die die Geschicke der Region lenkten. Fehlgeleitet kann dieses Gefühl einen Ausdruck im islamischen Fundamentalismus finden, für den alles, was aus dem Westen kommt, Teufelswerk ist. Doch dürfen wir nicht vergessen, dass das Erstarken des Islamismus in erster Linie eine Folge des politischen Versagens der Linken darstellt, angesichts der drückenden Probleme in diesen Gesellschaften eine sozialistische Alternative anzubieten.
In den 1950er und 1960er Jahren beseelte Gamal Abdel Nassers Traum von einem “Panarabischen Sozialismus” die breiten Massen der gesamten Region. Ägypten wurde zum Hoffnungsträger aller Unterdrückten und Ausgebeuteten der arabischen Welt. Doch Nasser war nicht bereit, alle logischen Schlussfolgerungen aus seinem Konzept zu ziehen, und unter Anwar Sadat wurde der gesamte Prozess wieder ins Gegenteil verkehrt. Ägypten wurde auf die Rolle eines kleinen Rädchens in der Großmachtpolitik der USA reduziert. In den drei Jahrzehnten der Herrschaft Mubaraks war Ägypten eine bloße Marionette der USA und Israels. Die Rechnung dafür bezahlte nicht zuletzt der palästinensische Befreiungskampf.
In diesen Jahrzehnten wurde die arabische Seele von Enttäuschungen, Niederlagen und Erniedrigungen gemartert. Doch nun hat sich das Blatt gewendet: Die Idee der Revolution hat heute in der arabischen Welt eine ganz konkrete Bedeutung bekommen. Sie hat die Köpfe von Millionen von Menschen erfasst und wird dadurch zu einer materiellen Kraft. Ideen, die bis vor kurzem nur von kleinen Minderheiten vertreten wurden, setzen plötzlich Millionen in Bewegung.
Revolutionen unterziehen alle politischen Strömungen einem Härtetest. Von einem Tag auf den anderen verloren der individuelle Terrorismus und der islamische Fundamentalismus jede Anziehungskraft. Die Revolution hat längst vergessen geglaubte Ideen zu neuem Leben erweckt. Die alten Traditionen des Sozialismus und des panarabischen Nationalismus rücken wieder ins Bewusstsein breiter Schichten. Alte Widerstandslieder werden gesungen, Bilder von Nasser sind wieder auf den Demonstrationen zu sehen.
Wir werden heute Zeugen einer neuen arabischen Renaissance. In der Hitze des Gefechts wird das Massenbewusstsein neu geformt. Demokratische Losungen sind unter den gegebenen Umständen von grundlegender Bedeutung. Menschen, die lange Zeit versklavt waren, schieben endlich die alte von Passivität und Fatalismus geprägte Mentalität beiseite und erheben sich zu voller Größe.
Derartige Prozesse im Bewusstsein können wir in jedem Streik sehen. Dies ist kein Zufall, ist doch ein jeder Streik sozusagen eine Revolution im Kleinen. Umgekehrt ist jede Revolution wie ein Streik der gesamten Gesellschaft gegen die Unterdrücker. Sobald die Menschen aktiv werden, ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen und ihre Rechte einfordern, entdecken sie ihre Würde. Sie fordern mit Respekt behandelt zu werden. Das ist die Essenz eine jeden Revolution.
Durch die Revolution schwingt sich das Bewusstsein zu neuen Höhen auf. Der Reaktion wird der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Nebelschwaden, die vom religiösen Fundamentalismus verbreitet wurden, verhüllen nicht länger die Köpfe der Menschen. Entgegen der Darstellung vieler westlicher Medien spielten islamistische Kräfte in Tunesien und Ägypten keine relevante Rolle in der Revolution. Sektiererische Gewalt gegen religiöse Minderheiten hörte plötzlich auf. Frauen und Männer, Junge und Alte, MuslimInnen und ChristInnen standen nun vereint Seite an Seite.
Die revolutionäre Bewegung überstrahlt alle religiösen, nationalen und ethnischen Unterschiede. Die alten Geschlechterrollen gelten plötzlich nicht mehr. Frauen sind nun auf der Straße präsent und kämpfen an vorderster Front. Unter dem Banner der Revolution vereinigen sich alle lebendigen Kräfte der arabischen Nation im gemeinsamen Kampf. Die Menschen können nun erhobenen Hauptes und mit Stolz sagen: „Wir werden nicht länger SklavInnen sein.“
Die Grenzen der Spontaneität
Die Revolution in Tunesien und Ägypten kam von unten. Keine politische Partei kann für sich in Anspruch nehmen, diese Revolution organisiert zu haben. Diese Bewegung wurde von keiner Partei vorhergesehen, dementsprechend wurden sie von diesem spontanen Protest völlig unvorbereitet erwischt. Wenn es eine Lehre aus den Erfahrungen der Ägyptischen Revolution gibt, dann folgende: Die revolutionäre Bewegung kann niemandem außer sich selbst trauen. Sie muss auf die eigene Stärke bauen.
Die Ereignisse in Ägypten erinnern frappant an jene von Barcelona des Jahres 1936. Ohne Partei, ohne Programm, plan- und führungslos marschierten die ArbeiterInnen heldenmütig auf die Kasernen zu und schlugen die FaschistInnen. In dieser Situation hätten sie die Macht übernehmen können. Warum stellten sie nicht die Machtfrage? Wegen dem Fehlen einer Führung. Oder genauer gesagt: Die Führung der anarchistischen CNT, der die Mehrheit der ArbeiterInnenklasse vertraute, hatte keinen Plan. Wer immer Illusionen in den Anarchismus hegt, der möge die Geschichte der Spanischen Revolution studieren.
Auf den ersten Blick erscheinen die Revolutionen in Tunesien und Ägypten als spontane Bewegungen ohne Organisation und ohne Führung. Doch diese Definition ist nicht wirklich exakt: Die Bewegung war nur zu einem gewissen Grade spontan. Einzelpersonen und kleinere Gruppen setzten Initiativen, gaben Losungen aus, riefen zu Demos und Streiks auf.
In diesem Zusammenhang wurde in den bürgerlichen Medien der Rolle von sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet. Kein Zweifel: Diese neuen Technologien haben sich als sehr nützlich für die Sache der Revolution erwiesen. Wie zuvor bereits im Iran, verlor der Staatsapparat dadurch in Ägypten und Tunesien das Informationsmonopol. Wer jedoch diesen technologischen Aspekt überbetont, der verzerrt die tatsächlichen Ereignisse, der relativiert die Rolle der breiten Massen und des Proletariats im Speziellen. Es ist der Versuch, die Revolution hauptsächlich als eine Angelegenheit der Mittelschichten, von Intellektuellen und Internet-AktivistInnen, darzustellen.
Dieser Ansatz ist grundlegend falsch. Erstens hat nur ein kleiner Teil der Bevölkerung überhaupt Zugang zum Internet. Zweitens haben die Regierungen das Internet fast vollständig lahmgelegt und die Handynetze gestört, in der Hoffnung, so die Proteste im Keim zu ersticken. Doch auch mit diesen Maßnahmen konnte die Bewegung nicht gestoppt werden. Ohne Internet und Handys, griffen die Menschen bei der Organisierung der Demonstrationen auf eine sehr alte Technik zurück – die mündliche Kommunikation. Diese war schon in der Französischen und der Russischen Revolution im Einsatz und leistet noch immer gute Dienste. Wenn überhaupt, spielte der Fernsehsender Al Jazeera eine weit wichtigere Rolle als Facebook. Millionen Menschen konnten Tag für Tag, Stunde für Stunde verfolgen, wie sich die Ereignisse entwickelten.
Von Anfang an gab es in gewisser Hinsicht eine Führung, die aus einer losen Koalition von etwas mehr als einem Dutzend kleinerer Parteien und AktivistInnengruppen bestand. Sie verbreiteten den Aufruf zu einem “Tag des Zorns”, der mit dem “Tag der Polizei” am 25. Januar zusammenfiel.
Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten wurden die ersten Demonstrationen hauptsächlich von jungen Menschen ins Leben gerufen. Damit übernahmen sie die Rolle gerade jener Führung, welche die „offiziellen“ Oppositionsparteien nicht zu spielen wagten. „The Economist” charakterisierte sie als “lose zusammenhängende Gruppen von generell säkularen, aber sonst ideologisch nicht wirklich zuordenbaren Jugendlichen, die Reformen forderten und über das Internet operieren. Einige schlossen sich in Kampagnen für Arbeitsrechte zusammen, andere setzen sich für die Menschenrechte oder die Freiheit der Wissenschaft ein“.
Die ersten Protestaktionen wurden also von einer kleinen entschlossenen Minderheit durchgeführt und waren daher nicht wirklich „spontan“. Die Sympathie der Öffentlichkeit war von Anfang an auf Seiten der Proteste. Daraus entwickelte sich ein allgemeiner Aufstand gegen das Regime von Mubarak mit Massenprotesten in ganz Ägypten. Im Grunde genommen gab es also eine Führung, auch wenn diese keine sehr klaren Ideen und Vorstellungen hatte. Sowohl in Tunesien als auch in Ägypten wurden die OrganisatorInnen der Proteste von der Massenbeteiligung überrascht. Nie hätten sie sich erwartet, dass die Unterstützung für ihren Aufruf so groß sein würde. Und noch weniger hätten sie wohl gedacht, dass sie die Sondereinheiten der Polizei in die Flucht schlagen würden.
Es stimmt, dass der “spontane” Charakter der Revolution einen gewissen Schutz vor der staatlichen Repression darstellte, und in diesem Sinne war dies ein positives Element. Doch das Fehlen einer adäquaten Führung stellt in weiterer Folge eine ernsthafte Schwäche dar.
Die Tatsache, dass es gelang, sowohl Ben Ali als auch Mubarak auch ohne eine bewusste Führung zu stürzen, zeugt vom gewaltigen revolutionären Potential des Proletariats. Allerdings erschöpft diese Feststellung dieses Thema nicht: Die Schwächen einer rein spontanen Bewegungen sahen wir im Iran, wo die Revolution, bei allem Heldenmut, in einer Niederlage endete – zumindest vorerst.
Die häufig vorherrschende Einstellung “Wir brauchen keine Führung” entspricht nicht der Situation. Selbst bei einem halbstündigen Streik in einer Fabrik gibt es eine Führung. Man wird KollegInnen wählen, die die Belegschaft vertreten und den Streik organisieren. Diese KollegInnen werden nicht zufällig oder willkürlich ausgewählt, sondern sind im Normalfall die mutigsten und erfahrensten ArbeiterInnen.
Die Führung ist von großer Bedeutung, ebenso das Vorhandensein einer Partei. Diese Feststellung gehört zum ABC des Marxismus. Doch damit ist die Frage noch nicht erschöpft. Gewisse „MarxistInnen“ meinen, dass wir es erst dann mit einer Revolution zu tun hätten, wenn eine revolutionär-marxistische Partei an der Spitze des Proletariats stünde. Ein derartiger Schematismus hat nichts mit Marxismus gemein. Die Revolution wird sich nicht in geordneten Bahnen vollziehen, dirigiert von der revolutionären Partei.
Im Jahre 1917 meinte Lenin, dass die ArbeiterInnenklasse in einer Revolution immer weit revolutionärer sei als jede noch so revolutionäre Partei. Im April 1917 war er gezwungen sich direkt, über das Zentralkomitee der Bolschewiki hinweg, an die ArbeiterInnen zu wenden, weil seine eigene Partei eine völlig konservative Haltung zur Frage der proletarischen Revolution in Russland entwickelt hatte.
Dieselbe konservative Geisteshaltung, das selbe herablassende Misstrauen gegenüber den breiten Massen kann bei vielen beobachtet werden, die sich selbst als “Avantgarde” der Klasse sehen, jedoch in den entscheidenden Situationen eine Bremse für die Bewegung darstellen. Es reicht aus, an die alte sogenannte “Avantgarde” im Iran zu denken, die die Revolution von 1979 überlebt hatte, aber völlig abseits stand, als im Jahr 2009 Millionen von Menschen das Regime auf den Straßen offen herausforderten.
Sagt der Marxismus, dass eine Revolution ausgeschlossen ist, wenn keine revolutionäre Partei an der Spitze der ArbeiterInnenklasse steht? Nein. Eine Revolution verläuft nach ihren eigenen Gesetzen – unabhängig vom Willen der RevolutionärInnen. Eine Revolution beginnt, wenn alle objektiven Bedingungen gegeben sind. Die breiten Massen warten nicht, bis eine revolutionäre Partei aufgebaut ist. In revolutionären Situationen macht der Faktor Führung aber sehr wohl einen entscheidenden Unterschied, nicht selten entscheidet er zwischen Sieg und Niederlage.
Eine Revolution ist ein Kampf lebendiger Kräfte. Ein siegreicher Ausgang ist natürlich nicht von vornherein garantiert. In der Tat drohte die Ägyptische Revolution an einem bestimmten Punkt in einer Niederlage zu enden. Die Entscheidung auf dem Tahrir-Platz zu bleiben, war taktisch alles andere als die beste Wahl. Darin drückte sich die politische Begrenztheit der OrganisatorInnen aus. Mubarak wäre es fast gelungen, die Bewegung auszumanövrieren, indem er einige Teile der Bewegung einzukaufen versuchte und andererseits lumpenproletarische Schläger mobilisierte. Diese Taktik hätte durchaus aufgehen können. Nur das entschlossene Auftreten der Massen und speziell der ArbeiterInnenklasse machte Mubarak einen Strich durch die Rechnung.
Das Problem der Führung
Zu Beginn einer Revolution verfügen die Massen nie über einen klaren Plan. Sie lernen erst durch die konkreten Erfahrungen im Kampf. Obwohl sie nicht genau wissen, was sie wollen, wissen sie sehr gut, was sie nicht mehr wollen. Und das ist zunächst ausreichend, um die Bewegung voranzutreiben.
Führung ist ein wichtiger Faktor in jedem Krieg. Das heißt natürlich nicht, sie wäre der einzige Faktor. Selbst die großartigsten politischen FührerInnen können den Erfolg einer Bewegung nicht garantieren, wenn die objektiven Bedingungen nicht gegeben sind. Manchmal ist es sogar möglich, mit schlechten GenerälInnen eine Schlacht zu gewinnen. Eine Revolution ist in gewissem Maße der höchste Ausdruck des Kriegs zwischen den Klassen. Die ArbeiterInnenklasse verfügt über den Vorteil, dass sie zahlenmäßig weit überlegen ist und dass sie die Kontrolle über zentrale Bereiche des gesellschaftlichen Produktionsapparats inne hat.
Doch die herrschende Klasse verfügt über viele andere Vorteile: Mit dem Staatsapparat verfügt sie über ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Diktatur einer Minderheit von Ausbeutern über die Mehrheit der Gesellschaft. Zusätzlich verfügt sie über Presse, Radio und TV, Schulen und Universitäten, die staatliche Bürokratie und, nicht zu vergessen, die spirituelle Bürokratie und die Gedankenpolizei in den Moscheen und Kirchen. Ferner hat sie eine Heerschar von BeraterInnen, ÖkonomInnen und anderen „ExpertInnen“ auf dem Gebiet der Manipulation und Täuschung.
Um den über Jahrzehnte aufgebauten und perfektionierten Unterdrückungsapparat bekämpfen zu können, muss die ArbeiterInnenklasse ihre eigenen Organisationen entwickeln und eine erfahrene, entschlossene Führung herausbilden, welche die Lehren der Geschichte verarbeitet hat und auf alle Eventualitäten vorbereitet ist. Die herrschende Klasse und den bürgerlichen Staat ohne Organisation und Führung besiegen zu wollen, wäre wie der Versuch, eine Armee unausgebildeter und unvorbereiteter SoldatInnen gegen eine Berufsarmee in die Schlacht zu schicken.
In den meisten Fällen wird ein solcher Kampf in einer Niederlage enden. Doch selbst wenn es gelingen sollte, den Feind in einem ersten Aufeinanderprallen zu überrumpeln, dann wird das nicht ausreichen, um die Revolution gänzlich zum Sieg zu führen. Der Gegner wird sich neu sammeln, reorganisieren, seine Taktik ändern und eine Gegenoffensive vorbereiten, die umso gefährlicher sein wird, weil die Massen in dem Glauben sind, den Kampf bereits gewonnen zu haben. Was anfänglich als Moment des Triumphes und der Freude erscheint, kann sich schnell als extreme Gefahr für das Schicksal der Revolution entpuppen. Das Fehlen einer adäquaten Führung wird sich in solch einem Fall als Achillesferse, als fatale Schwäche der revolutionären Bewegung herausstellen.
Die Führung der Protestbewegung in Ägypten umfasste verschiedene ideologische Strömungen. Letztlich spiegeln diese Strömungen unterschiedliche Klasseninteressen wider. Zu Beginn der Revolution wird diese Tatsache durch das allgemeine Gefühl der „Einheit“ übertüncht. Doch im weiteren Verlauf kommt es unvermeidlich zu einem Prozess der inneren Differenzierung. Die bürgerlichen Elemente und die „DemokratInnen“ aus der Mittelschicht werden rasch die ersten Zugeständnisse des Regimes annehmen wollen. Sie werden Kompromisse suchen und hinter dem Rücken der Bewegung in Verhandlungen treten. Früher oder später werden sie der Revolution den Rücken kehren und ins Lager der Reaktion wechseln. Teilweise sehen wir dies bereits jetzt.
Es sind nur die entschlossensten Teile der Bewegung, die letztlich den Sieg der Revolution sicherstellen können: Jene, die nicht bereit sind, Kompromisse einzugehen, sondern den Kampf bis zum Letzten führen wollen. In der gegenwärtigen Situation sind neuerliche Explosionen angelegt. Schlussendlich muss die eine oder die andere Seite triumphieren. Objektiv sind die Bedingungen reif für eine Machtübernahme durch die ArbeiterInnenklasse. Nur das Fehlen eines subjektiven Faktors – einer revolutionären Partei und Führung – hat bisweilen nicht zu einem solchen Szenario geführt. Die Lösung des Problems der Führung ist daher die zentrale Aufgabe, vor der wir stehen.
Intrigen an der Spitze
Es war der landesweite Aufstand, der die Generäle zu dem Schluss kommen ließ, dass Mubaraks Abgang die einzige Möglichkeit sei, um die Straße wieder zu beruhigen und die „Ordnung“ wieder herzustellen. Das war und ist ihr vorrangiges Anliegen. Das ganze Gerede von „Demokratie“ sollte davon nur ablenken. Korrupt und skrupellos, waren die Generäle Teil des alten Regimes. Sie fürchten die Revolution wie die Pest und wollen schnellstmöglich wieder zur “Normalität” zurückkehren – sie wollen ein Zurück zum alten Regime unter einem neuen Namen.
Die herrschende Klasse verfügt über eine Vielzahl von Strategien, um die Revolution in die Knie zu zwingen. Wenn ihr das mit den Mitteln der Gewalt nicht gelingt, wird sie einen anderen Weg wählen. Wenn die herrschende Klasse vor der Perspektive steht, alles zu verlieren, dann wird sie immer Zugeständnisse machen. Der Sturz Ben Alis und Mubaraks stellte einen großen Sieg dar, doch das war nur der erste Akt in diesem revolutionären Drama.
Die VertreterInnen des alten Regimes halten noch immer ihre Machtposition; der alte Staatsapparat, die Armee, die Polizei und die Bürokratie sind allesamt intakt. Gleichzeitig stehen die Armeespitzen in engstem Kontakt mit dem Imperialismus und suchen nach einem Weg, die Revolution zu erwürgen. Sie bieten „Kompromisse“ an – Kompromisse, bei denen sie ihre Macht und ihre Privilegien behalten können.
Auf der Straße in die Knie gezwungen, versucht nun das alte Regime die Opposition durch Verhandlungsangebote einzubinden. Die Idee hinter dieser Initiative ist nicht schwer zu durchschauen: Sobald es Verhandlungen mit einem kleinen, erlauchten Kreis gibt, werden die breiten Massen zu passiven BeobachterInnen degradiert. Die wirklichen Entscheidungen sollen andernorts getroffen werden, hinter verschlossenen Türen, hinter dem Rücken der Bewegung.
Langsam aber sicher haben sich die VertreterInnen des alten Regimes wieder erholt und gewinnen an Selbstvertrauen. In ihren Manövern und Intrigen stützen sie sich auf die gemäßigten Teile der Opposition. Die breiten Massen sehen diese Entwicklung mit Argwohn, denn sie wollen nicht, dass die Bewegung von BerufspolitikerInnen und KarrieristInnen für deren eigene Interessen ausgenutzt wird.
Wenn sich die Bewegung radikalisiert, werden einige, die in der ersten Phase eine führende Rolle eingenommen haben, wieder zurückfallen. Andere werden überhaupt die Bewegung verlassen; wieder andere werden ins Lager des Gegners wechseln. Das hängt mit den unterschiedlichen Klasseninteressen der einzelnen Teile der Bewegung zusammen. Die Armen, die Arbeitslosen, die ArbeiterInnen, die Besitzlosen haben kein Interesse an einer Fortführung der alten Ordnung. Sie wollen nicht nur Mubarak hinwegfegen, sondern das gesamte Regime, das auf Unterdrückung, Ausbeutung und Ungleichheit basiert. Die bürgerlichen Liberalen hingegen sehen den Kampf für „Demokratie“ als einen Weg zu einer komfortablen Karriere im Parlament. Sie haben kein Interesse, die Revolution weiterzutreiben, geschweige denn die bestehenden Eigentumsverhältnisse anzugreifen.
Für sie ist die Massenbewegung nicht viel mehr als ein willkommenes Druckmittel bei den Verhandlungen mit dem Regime. Wir können uns sicher sein, dass sie die Revolution verraten werden. El Baradei sagt jetzt, dass er die vorgeschlagenen Abänderungen zur Verfassung ablehnt, doch anstatt die sofortige Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung zu fordern, meint er, die Wahlen sollten nach hinten verschoben werden, weil die Voraussetzungen für freie Wahlen noch nicht gegeben seien. Für diese Damen und Herren wird es nie einen richtigen Zeitpunkt für die Demokratie geben. Für die Massen, die für die Revolution große Opfer gebracht und ihr Blut vergossen haben, ist der Zeitpunkt für Demokratie aber jetzt gekommen!
Deshalb:
- Kein Vertrauen in die Generäle!
- Kein Vertrauen in die selbsternannten “FührerInnen”, die eine Rückkehr zur Normalität herbeireden wollen!
- Die Massenbewegung muss fortgeführt werden!
- Organisieren und stärken wir die revolutionären Komitees!
- Weg mit allen UnterstützerInnen des alten Regimes!
- Keine Deals mit dem alten Regime!
- Die gegenwärtige “Interimsregierung” verfügt über keine Legitimität und muss sofort aufgelöst werden – Fordern wir die umgehende Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung!
Die Muslimbruderschaft
Beginnend mit Irans religiösem Führer Khamenei wurde mehrfach die Behauptung aufgestellt, diese revolutionäre Bewegung stehe für ein „Wiedererwachen des Islam“. Doch diese Aussage entbehrt jeder Realität. Selbst die wichtigsten Kleriker in Ägypten geben dies zu. Wir haben hier eine Bewegung gesehen, die von AnhängerInnen aller Religionen getragen wurde. Während der Demonstrationen gab es keine Übergriffe gegen die christliche Minderheit, und es gab keine Anzeichen von Antisemitismus.
Religiöses Sektierertum ist eine Waffe der Reaktion, um die Bewegung zu spalten. Die gewaltsamen Übergriffe gegen die koptisch-christliche Gemeinde im vergangenen Dezember waren ganz klar das Machwerk der Geheimpolizei, um von den tatsächlichen Problemen im Land abzulenken. Jetzt versuchen die Kräfte des alten Regimes, neuerlich auf diese schmutzige Taktik zu setzen.
Die Revolten in Tunesien und Ägypten waren weitgehend säkulare und demokratische Bewegungen, in denen islamistische Kräfte kaum eine Rolle spielten. Die Behauptung, die Muslimbruderschaft sei „die einzig wirkliche Opposition“ ist von Grund auf falsch. Die zentralen Forderungen der Demonstrationen in Ägypten waren Arbeit, Brot und Demokratie. Sie stellen eine Brücke zu einer sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft dar. Und wir sollten nicht vergessen, dass gerade die Idee des Sozialismus in Ägypten und anderen arabischen Ländern über eine starke Tradition verfügt.
Es gibt Teile der Linken, welche die Bewegungen in Tunesien und Ägypten als “Revolution der Mittelschichten” beschreiben. Es sind die selben Gruppen, die lange Zeit mit reaktionären Gruppen wie der Hisbollah, der Hamas oder der Muslimbruderschaft geflirtet haben. Sie argumentieren dieses Abrücken von marxistischen Positionen mit dem angeblichen “Anti-Imperialismus” dieser islamistischen Organisationen. Sie vergessen dabei, dass die sogenannten IslamistInnen in Worten vielleicht gegen den Imperialismus auftreten, in der konkreten Praxis aber eine völlig reaktionäre Strömung darstellen.
Der Imperialismus präsentiert die islamistischen Kräfte als große Bedrohung, um den wahren Charakter der Arabischen Revolution zu verschleiern. Die Masche lautete: „Wenn Mubarak geht, dann werden die Muslimbrüder die Macht übernehmen.“ Mubarak selbst warnte die ägyptische Bevölkerung ebenfalls vor einem Zustand „wie im Irak“. Doch war dies alles bloße Angstmache. Die Rolle des islamischen Fundamentalismus und von Organisationen wie der Muslimbruderschaft wurde maßlos übertrieben. Was auf alle Fälle klar ist: Diese Kräfte stellen nichts Fortschrittliches dar. Sie geben sich selbst anti-imperialistisch, stehen aber in Wirklichkeit auf der Seite der GroßgrundbesitzerInnen und KapitalistInnen. Letztlich werden sie immer die Sache der ArbeiterInnen und BäuerInnen verraten.
Die Unterstützung von linken Gruppen in Europa für islamistische Kräfte ist ein ausgesprochener Skandal und kommt einem Verrat an der proletarischen Revolution gleich. Es stimmt zwar, dass die Muslimbruderschaft entlang von Klassenlinien gespalten ist. Die Führung besteht großteils aus konservativen Elementen und reichen Geschäftsleuten, während die Basis zumeist ärmeren Gesellschaftsschichten entstammt und auch kämpferische Teile der Jugend umfasst. Das Ziel muss es sein, diese Basis für die Revolution zu gewinnen. Dies wird aber nicht in Form von Bündnissen mit den bürgerlichen Führern funktionieren, sondern indem wir die Politik dieser Organisationen einer schonungslosen Kritik unterziehen und den wahren Charakter offenlegen, der sich hinter den anti-imperialistischen Floskeln verbirgt.
Das ist aber das genaue Gegenteil von dem, was viele Linke machten, als sie vor einigen Jahren ein Bündnis mit der Führung der Muslimbruderschaft bei der Organisierung der Anti-Kriegskonferenz in Kairo eingingen. Im Grunde haben diese Gruppen der Führung der Muslimbrüder linken Flankenschutz geboten und ihr die Möglichkeit gegeben, sich als anti-imperialistische Kraft zu präsentieren. So half man bloß der Führung, sich vor der eigenen Basis zu profilieren.
In der Vergangenheit wurde die Muslimbruderschaft von der CIA unterstützt, um das linksgerichtete, nationalistische Regime von Nasser zu untergraben. Der islamische Fundamentalismus war ein Produkt von US-Außenminister John Foster Dulles, um die Linke nach der Suezkrise zu schwächen. Erst als der ägyptische Präsident Sadat zur offenen Marionetten der USA wurde (Mubarak sollte später seine Rolle übernehmen), wurden die Muslimbrüder nicht mehr gebraucht. Aus dem gleichen Grund waren die Hamas und die Hisbollah ursprünglich aufgebaut worden, um in Palästina den Einfluss der PFLP und anderer linker Strömungen zurückzudrängen. Später schuf die CIA mit Osama bin Laden und seinen GotteskriegerInnen ein Gegengewicht zu den Sowjets in Afghanistan. Hillary Clinton und andere haben jüngst versucht, die Muslimbruderschaft nicht als Bedrohung, sondern als konstruktive Kraft darzustellen. Das ist ein eindeutiges Zeichen, dass der Imperialismus früher oder später wieder auf diese Kraft setzen wird, um die Revolution zu besiegen.
Aber die Muslimbruderschaft ist keine homogene Bewegung – sie ist gerade dabei, sich entlang von Klassenlinien zu spalten. Die Armen, welche die Bruderschaft unterstützen, sind die eine Sache, ihre Führer eine andere. In den 1980ern gehörten die Führer der Bruderschaft zu den wichtigsten Nutznießern der wirtschaftlichen Liberalisierung – dem Programm der infitah oder “Öffnung” – als Sadat und später Mubarak den Staatssektor zurückdrängten und Privatkapital begünstigten. Durch diese Politik kontrollierten der Bruderschaft nahestehende Geschäftsleute rund 40 Prozent der ägyptischen Privatwirtschaft. Mubarak verkaufte staatliche Unternehmen an das Privatkapital. Die Muslimbruderschaft ist heute fester Bestandteil des kapitalistischen Systems und hat jedes Interesse, dieses aufrechtzuerhalten. Ihre Haltung wird nicht durch den Koran bestimmt, sondern von handfesten Klasseninteressen.
Die HardlinerInnen unter den Islamisten fürchten sich vor einer revolutionären Massenbewegung genauso sehr wie das Regime selbst. Die Muslimbrüder erklärten, sie wären zu keinen Verhandlungen mit der Regierung bereit, solange Mubarak nicht zurückgetreten wäre. Doch sobald das Regime den kleinen Finger rührte, hatten sie diese Aussage wieder vergessen. Einer ihrer Führer trat auf dem Tahrir-Platz auf, wo die DemonstrantInnen unter Einsatz ihres Lebens die Panzer davon abhielten, den Platz zu besetzen, und warnte davor, die Armee herauszufordern.
Unsere Haltung gegenüber solchen Leuten wurde vor langer Zeit von Lenin auf dem Zweiten Weltkongress der Kommunistischen Internationale ausgearbeitet:
“11) In bezug auf die Staaten und Nationen, die einen mehr zurückgebliebenen, vorwiegend feudalen oder patriarchalischen oder patriarchalisch-bäuerlichen Charakter tragen, muss man insbesondere folgende Punkte im Auge behalten:
a) Alle kommunistischen Parteien müssen die revolutionären Freiheitsbewegungen in diesen Ländern durch die Tat unterstützen. Die Form der Unterstützung muss mit der kommunistischen Partei des betreffenden Landes erörtert werden, wenn es eine solche Partei gibt. In erster Linie trifft diese Verpflichtung der tatkräftigen Hilfe die Arbeiter desjenigen Landes, von dem die zurückgebliebene Nation in kolonialer oder finanzieller Hinsicht abhängt.
b) Unbedingt ist der Kampf gegen den reaktionären und mittelalterlichen Einfluss der Geistlichkeit, der christlichen Missionen und ähnlicher Elemente zu führen.
c) Notwendig ist der Kampf gegen den Panislamismus und ähnliche Strömungen, die den Versuch machen, den Freiheitskampf gegen den europäischen und amerikanischen Imperialismus mit der Stärkung der Macht des Adels, der Großgrundbesitzer, der Geistlichen usw. zu verbinden." (Leitsätze über die Nationalitäten- und Kolonialfrage, angenommen auf dem II. Kongress der Kommunistischen Internationale, aus: Der I. und II. Kongress der Kommunistischen Internationale, Dietz-Verlag, 1959, S.174)
Das ist die Position des Marxismus gegenüber allen reaktionären religiösen Strömungen. Das ist die Position, die die Internationale Marxistische Strömung konsequent verteidigt.
Deshalb:
- Verteidigen wir die Einheit der revolutionären Bewegung!
- Nieder mit den Hasspredigern und den Drahtziehern hinter den Pogromen!
- Gegen jede Form der religiösen Diskriminierung!
- Keine Kompromisse mit reaktionären und obskurantistischen Kräften!
- Alle Menschen müssen das Recht haben, frei ihre Religion zu praktizieren oder ohne Bekenntnis zu sein!
- Für die völlige Trennung von Staat und Religion!