Tunesien erlebt im Moment eine große Protestwelle. In den letzten Tagen hat sich in Tunesien der Beginn einer neuen Jugendbewegung entwickelt, fast auf den Tag genau sieben Jahre nach dem Sturz des verhassten Ben Ali Regimes 2011.
Dieses Mal haben Haushaltskürzungen durch den IWF die Proteste ausgelöst. Dutzende Aktivisten wurden verhaftet und eine Person getötet (Stand: 11. Januar). Die Bewegung „Fech Nastannou?“ („Worauf warten wir?“) zeigt, dass der Sturz des Diktators nicht automatisch die Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Mangel an Zukunftsaussichten löste, welche den Aufstand 2011 ausgelöst hatten.
Ende Dezember hat das tunesische Parlament den Haushalt 2018 verabschiedet, welcher unter Aufsicht des Internationalen Währungfonds (IWF) verfasst wurde. Im Austausch dafür versprach der IWF, 320 Millionen Dollar eines zurückgehaltenen Kredits über 2.8 Milliarden freizugeben. Der Haushalt, welcher der IWF als „mutig“ und „ambitioniert“ beschreibt, soll das Staatsdefizit unter 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes drücken (von 6 Prozent im Jahr 2017). Dieses Ziel soll durch höhere Steuern, Kürzung von Subventionen und durch eine „umfassende Reform der öffentlichen Dienste“ erreicht werden. Es wird zudem über die Erhöhung des Rentenalters und weitere Angriffe auf die Lebensbedingungen der Massen verhandelt.
Seit Beginn des Jahres gab es Proteste, meist auf Initiative der arbeitslosen Jugend hin. Mittlerweile haben sich die Proteste auf mindestens zehn Städte in den ärmsten Regionen ausgebreitet, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei 40 Prozent oder höher liegt. Die Polizeirepression führte zu Zusammenstößen der Demonstranten mit der Polizei. Die Armee wurde nach Kasserine und Gafsa entsandt, beides waren 2011 Hochburgen des Aufstands.
Dutzende AktivstInnen der “Fech Nestannew?”-Bewegung wurden verhaftet, weil sie mit Flugblättern zu Protesten gegen die Sparpolitik aufriefen. Das Symbol der Bewegung ist eine tickende Uhr. In der Nacht auf Montag wurde ein 55-jähriger Demonstrant, Khomsi el-Yerfeni, in Teboura westlich von Tunis getötet. Er wurde von einem Polizeiauto überfahren. Die Proteste weiteten sich darauf auf über 20 Städte aus. Es kam auch dort zu Zusammenstößen mit der Polizei und der Armee. Die geografische Ausdehnung der Proteste ist damit dieselbe wie 2011 und von allen Bewegungen seither: Sidi Bouzid, Kasserine, Gafsa, Sousse, El Kef, Thala, Gabes, Nabeul, Redeyef, Kairouan, Sfax, etc.
Es gibt einen tief sitzenden Zorn über die immer ansteigenden Preise für Grundnahrungsmittel und dass die Regierung die ArbeiterInnen und Armen für die Krise zahlen lässt. „Zu Zeiten Ben Alis, den ich nicht mochte, konnte ich meinen Marktstand mit Gemüse und anderen Waren für zehn Dinar füllen, heute reichen dazu 50 Dinar nicht aus. Die Situation hat sich dramatisch verschlechtert“, sagte Fatma, eine Verkäuferin in Tunis gegenüber dem Guardian in einem Interview. „Die Regierung opfert die Armen und die Mittelschicht, indem sie die Preise erhöht, während Steuerbetrüger und Geschäftsleute davon kommen.“
Seit 2011 und dem Sturz des verhassten Ben Ali Regimes (welches die volle Unterstützung aller westlichen Imperialisten, besonders von Frankreich genoss) gab es wiederholt Bewegungen der Jugendlichen und Armen. Der Sturz des alten Regimes wurde von einer Bewegung ausgelöst, die wirtschaftliche Forderungen (Brot, Arbeit) mit politischen Forderungen (Freiheit) verband. Die Massen erhoben sich und besiegten das repressive Regime durch eine Reihe von Demonstrationen und regionalen Generalstreiks, bei denen die Jugend eine wesentliche und ausschlaggebende Rolle spielte. Doch der Kapitalismus blieb unangetastet. Die Massen, insbesondere die revolutionäre Jugend, wurden um die Früchte ihres Sieges betrogen. Immer wieder gingen sie auf die Straße, aber ohne klare Führung wurde die Bewegung besiegt.
Die aktuelle Regierung von Youssef Chaded ist das Resultat eines Pakts zwischen der moderat islamistischen Partei Ennahdha und der „säkularen“ Nidaa Tounes (in Wahrheit die Wiedergeburt der alten Partei von Ben Ali). So verteidigen die islamistischen und die säkularen PolitikerInnen gemeinsam die Interessen der herrschenden Klasse, während die Bevölkerung leidet. Doch es kommt noch schlimmer: Der aktuelle Präsident des Landes ist der 91-jährige BejiCaid Essebsi: ein Mann des alten Regimes, der in den letzten 40 Jahren unterschiedliche Posten im Staat bekleidet hat. Dafür haben die Massen nicht gekämpft und sind gestorben!
Damit die aktuelle Bewegung gewinnen kann, muss sie den mutigen Kampf der Jugend mit der arbeitenden Klasse verbinden. Vor allem aber müssen die Forderungen nach Brot und Arbeit mit der Beseitigung des Kapitalismus verbunden werden. Nur die Enteignung der tunesischen Kapitalisten und der multinationalen Konzerne kann die Grundlage sein für einen demokratischen Plan der Wirtschaft, der die Interessen und Bedürfnisse der Mehrheit – Arbeiter, Bauern und Jungendliche – an erste Stelle setzt.