In der Türkei hat vor einigen Wochen eine Welle von Streiks und Protesten begonnen, die in vielen Städten ungebrochen weitergehen. Währenddessen sind die Beliebtheitswerte von Erdoğan im Keller. Von Çağla Güneş.
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Die Grundlage für die aktuelle Welle an Arbeitskämpfen und Streiks ist die katastrophale ökonomische Lage. Angesichts der grassierenden Inflation verdampfen die Reallöhne förmlich und die meisten Lebensmittel werden unleistbar. Die Preise für Grundnahrungsmittel und Strom sind massiv angestiegen, was unter anderem in Diyarbakır Proteste und Massenkundgebungen ausgelöst hat. In vielen Städten haben Mensa- und Restaurantbetreiber ihre Stromrechnungen öffentlich zugänglich gemacht, um zu erklären, wieso sie zu solchen Preissteigerungen gezwungen sind. Gleichzeitig werden die Portionen kleiner.
Als Maßnahme gegen soziale Unruhe sah sich Erdoğan bereits im Dezember gezwungen, den Mindestlohn um 50 Prozent zu erhöhen. Doch noch bevor diese Erhöhung in Kraft getreten war, hat die Inflation schon dazu geführt, dass der neue Mindestlohn immer noch deutlich unter der Armutsgrenze liegt – Mitte Februar ist er gerade noch 275$ wert.
Während sich im gesamten Land der Druck auf die Arbeiterklasse durch Hunger und Armut enorm verschärft, sehen wir auch neue Formen des Widerstandes der Arbeiterklasse. Über nachbarschaftliche Solidarität und das sogenannte „Aufhängen“ von Essen in Restaurants hinaus (hier wird bei der Bestellung mehr gezahlt, um den restlichen Betrag sozusagen „aufzuhängen“ und so Bedürftigen kostenlose Mahlzeiten anbieten zu können) hat sich nun eine massive Streikwelle entwickelt, die die Herrschaft der AKP in ihren Grundfeste erschüttert.
Von den Lieferdiensten zu den Metallarbeitern
Begonnen hat die aktuelle Streikwelle bei den Lieferdiensten, als am 24. Jänner über 200 ArbeiterInnen von Trendyol-Express in den Streik traten. Auslöser für den Streik war die Tatsache, dass die Lohnerhöhung bei weniger als einem Drittel der damaligen Inflationsrate lag. In kürzester Zeit schlossen sich den 200 Streikenden der Großteile aller Trendyol-Beschäftigten in ganz Istanbul an.
Am Tag darauf streikten alle Trendyol-Filialen im ganzen Land. Einer der Trendyol-Beschäftigten drückte das Bewusstsein in einem Video aus: „Trendyol ist ein zehn Jahre altes Unternehmen. Habt ihr eine Firma in 10 Jahren so schnell wachsen sehen? Das liegt alles an uns. Nur wenn wir leben, kann Trendyol leben“.
Dieser Streik brachten den Funken zum Überspringen, und am 27.01 schlossen sich die Beschäftigten zahlreicher weiterer Lieferdienste wie Hepsijet, Scotty und Sürat Kargo an und wenige Tage später auch Beschäftigte des größten Zustellservices, Yemeksepeti. Zur Unterstützung der streikenden ArbeiterInnen kam es dort auch zu einer Boykottaktion, was zu einem Rückgang der Bestellungen um 70 Prozent führte – der größte von ArbeiterInnen organisierte Boykott in der Geschichte des Landes. In sozialen Medien kursierten Videos von streikenden ArbeiterInnen, die „Dünya yerinden oynar işçiler birlik olsa“ skandierten (Wenn die ArbeiterInnen vereint sind, wird das die Welt erschüttern).
Innerhalb von wenigen Tagen breitete sich diese Streikwelle auch auf andere Sektoren aus. So traten am 1. Februar 2000 ArbeiterInnen im Istanbuler Textilbetrieb Alpin Çorap in den Streik. Mit dieser Ausweitung der Proteste auf den industriellen Sektor nahm die Bewegung neuen Schwung auf. Innerhalb kürzester Zeit verbreiteten sich Streiks und Arbeitsniederlegungen wie ein Lauffeuer über die gesamte Türkei aus. Selbst vor traditionellen Bollwerken der AKP, wie Gaziantep und Kayseri, machte die Streikwelle nicht halt!
Ein Arbeiter aus Kayseri sagte im Interview: „Vor zwei Tagen habe ich Reis für 8 Lira gekauft, heute kostet er 12 Lira. Heute ist der 23. des Monats und ich habe keine einzige Lira mehr in meiner Tasche, bezahlt werde ich auch erst in 15 Tagen. Was soll ich tun? Aber schaut euch die Taschen der Parlamentsmitglieder an, die quellen nur so über vor Dollars.“
Es hat auch erste Streiks im gut organisierten Metallsektor gegeben, der von zentraler Bedeutung für die türkische Ökonomie ist. So kam es etwa am 14. Jänner in Mersin zu einem spontanen Streik von über 800 ArbeiterInnen, die mit dem neuen Kollektivertrag, der über 140.000 MetallarbeiterInnen betrifft, unzufrieden waren. Dieser Sektor der türkischen Arbeiterklasse hat bereits in den letzten Jahren eine große Rolle im Klassenkampf gespielt.
Die Tatsache, dass dieser Sektor erneut Teil einer landesweiten Bewegung wird, ist von immenser Bedeutung für die Entwicklung des gemeinsamen Kampfes der gesamten Arbeiterklasse.
Auch im Gesundheitssektor, der bereits seit Jahren unter massivem Druck steht, kam es am 8. Februar zu einem landesweiten Streik/Notbetrieb, genauso wie bei Gemeindebediensteten.
Der massive Anstieg an Arbeitskämpfen hat außerdem zu einem exponentiellen Anstieg von Gewerkschaftsbeitritten und -gründungen geführt – neben den schon genannten Sparten auch von BauarbeiterInnen, prekär Beschäftigten im Tourismus und im Gastgewerbe usw. In Gaziantep etwa führte der Streik im Textilbereich zu massenhaften Beitritten bei der unabhängigen Weber- und Lederarbeitergewerkschaft, die erst Anfang Februar gegründet worden ist!
Erdoğan am Boden
Als Folge dieser beeindruckenden Arbeitskämpfe und der völligen Unfähigkeit der Regierung Erdoğan, den Massen auch nur irgendetwas anzubieten, sanken die Umfragewerte der AKP in den Keller. Wie das Zitat des Arbeiters aus Kayseri demonstriert, wird der wahre Charakter der Regierung Erdoğan und der AKP immer klarer. Erdoğan kam als Kritiker des korrupten kemalistischen Establishments an die Macht und konnte dann auf Basis des Wirtschaftswachstums der frühen 2000er seine Unterstützung stabilisieren.
Doch im gleichen Maße, wie jeden Tag der Druck auf die türkische Arbeiterklasse steigt, schmilzt jene soziale Basis hin, auf die sich Erdoğan die letzten Jahre stützen konnte. Es bestätigt sich jene alte Weisheit, dass sich alles früher oder später ins Gegenteil verkehrt. Gerade jene Orte wie Gaziantep und Kayseri, die früher die traditionelle Basis der AKP darstellten, stehen nun inmitten einer umgreifenden Bewegung, die das Fundament einer neuen Offensive der Arbeiterklasse in der Türkei legen kann, die seit ihren großen Niederlagen in den 1980er Jahren zahlenmäßig enorm angewachsen ist. Unter diesem Druck zeigt Erdoğan sich als das, was er schon immer war: ein Vertreter des türkischen Kapitalismus.
Wie tausende ArbeiterInnen in den letzten Wochen festgestellt haben, ist es in letzter Instanz nur ihre Kraft, die die Kräne in Bewegung setzt, die Hämmer schwingt und das Essen zustellt. Ohne die Zustimmung der Arbeiterklasse stehen alle Räder still – dies war die Basis zahlreicher erfolgreicher Kämpfe in den letzten Wochen. Doch die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus in der Türkei (wie auch in allen anderen Ländern) und die Lage der Weltwirtschaft machen ein Ausruhen auf diesen Erfolgen unmöglich und führen dazu, dass jede Gehaltserhöhung früher oder später von der Inflation weggefressen wird.
Aber die ArbeiterInnen haben ihre Kraft gespürt: im Rahmen eines vereinten Kampfes wird es ihnen nicht nur möglich sein, Erdoğan und das AKP Regime zu stürzen, sondern auch den Kapitalismus als solches zu beseitigen.