Die venezolanische Oligarchie steht der Revolution feindlich gegenüber. Hinter ihr steht die Macht des US-Imperialismus. Früher oder später wird die venezolanische Revolution mit der entscheidenden Frage konfrontiert werden: Entweder - oder. Genauso wie die kubanische Revolution dazu imstande war, die Enteignung der Großgrundbesitzer und KapitalistInnen durchzuführen, wird sich die venezolanische Revolution notwendigerweise auf denselben Kurs begeben müssen. Das ist der einzig richtige Weg.
Die Bolivarische Revolution steht nun vor dem Scheideweg. Sie hat nun den kritischen Punkt erreicht, an dem Entscheidungen getroffen werden müssen, die einen bestimmenden Einfluss auf das Schicksal der Revolution haben werden. Die Rolle der Führung ist nun entscheidend. Aber gerade hier finden wir die größte Schwäche. Man kann ohne Angst auf Widerspruch feststellen, dass die sozialistische Revolution längst schon verwirklicht worden wäre, gäbe es in Venezuela eine echte marxistische Partei, die in der ArbeiterInnenklasse verwurzelt ist. Aber eine solche Partei gibt es nicht, bzw. existiert sie nur embryonal. Das ist der Kern des Problems.
Die Frage der Führung
Nach all dem Gerede über Sozialismus wurden die grundlegenden Aufgaben einer sozialistischen Revolution immer noch nicht ausgeführt. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um ein Problem der Führung. Hugo Chavez hat sich als furchtloser antiimperialistischer Kämpfer und ehrlicher Demokrat erwiesen. Aber Mut alleine reicht nicht, um einen Krieg zu gewinnen. Ebenso wichtig ist eine klare Strategie und Taktik. Was auf Kriege zwischen Nationen zutrifft, stimmt ebenso für Kriege zwischen Klassen.
Die ReformistInnen und StalinistInnen versuchen damit zu argumentieren, dass die „Bedingungen nicht reif“ für eine sozialistische Revolution in Venezuela seien. In Wirklichkeit sind die Bedingungen für eine siegreiche sozialistische Revolution in Venezuela unendlich günstiger als im Russland des Jahres 1917. Wir dürfen nicht vergessen, dass das zaristische Russland ein extrem rückständiges halbfeudales Land war, das eine sehr kleinen ArbeiterInnenklasse hatte – nicht mehr als zehn Millionen in einer Bevölkerung von 150 Millionen. Weiters dürfen wir nicht vergessen, dass die Bolschewistische Partei im Februar 1917 nur 8000 Mitglieder in ganz Russland hatte. Verglichen mit den fünf Millionen Mitgliedern der PSUV ist das ein augenscheinlicher Unterschied.
Die Balance der Klassenkräfte ist in Venezuela tausendmal besser als jene, die die Bolschewiki 1917 vorfanden. Aber das erschöpft die Frage noch nicht. Wie oft ist in der Geschichte eine große Armee mutiger Soldaten einer bei weitem kleineren Gruppe trainierter Profis, die von guten Offizieren geführt wurden, unterlegen? Viele male! In Revolutionen wie in Kriegen ist die Qualität der Führung von entscheidender Bedeutung.
Unter der Führung von Lenin und Trotzki konnte die Bolschewistische Partei innerhalb kürzester Zeit die entscheidende Mehrheit der ArbeiterInnen und Soldaten für sich gewinnen und sie zur Machtergreifung führen. Das geschah auf der Basis von klaren marxistischen Ideen und der Methode, die ideologische Festigkeit in allen entscheidenden Fragen mit taktischer Flexibilität zu kombinieren. Diese Methode dient dazu, die Massen für die Seite der Revolution zu gewinnen.
Die Existenz einer derartigen Partei und Führung hätte die Aufgabe der sozialistischen Revolution in Venezuela zweifellos extrem erleichtert. Aber eine solche Partei gibt es dort nun einmal nicht und die Massen können nicht darauf warten, bis wir sie aufgebaut haben. SektiererInnen und FormalistInnen sind unfähig, die Massen zu verstehen, wie sie sich entwickeln und welche Schritte sie zur Veränderung der Gesellschaft unternehmen. Für solche Leute stellt sich die Frage sehr einfach: Rufen wir die Revolutionäre Partei aus! Es macht keinen Unterschied, ob es sich dabei um eine Partei mit ein oder zwei Millionen Mitgliedern handelt. Aber die Massen verstehen kleine revolutionäre Gruppen nicht, weshalb sie an ihnen vorbeigehen und sie nichteinmal bemerken.
Die Revolution kann nicht von kleinen Gruppen von RevolutionärInnen geleitet werden, wie ein Orchester vom Dirigenten. Sie hat ein eigenes Leben und eine eigene Logik, die nicht in die formalistischen Schemen der SektiererInnen hineinpassen. Die Natur verabscheut das Vakuum. Durch das Fehlen einer standhaften revolutionären Führung die mit den wissenschaftlichen Ideen des Marxismus bewaffnet ist, wurde die Führung von der Bolivarischen Bewegung übernommen.
An ihrer Basis befinden sich Millionen von ArbeiterInnen, Kleinbauern und revolutionären Jugendlichen, die sich mit all ihrer Energie für eine grundlegende Veränderung der Gesellschaft einsetzen – für Sozialismus. Ihre Wünsche identifizieren sie mit der Person Hugo Chavez, den Gründer und unangefochtenen Führer der Bolivarischen Bewegung – Natürlich! Die Massen verhalten sich immer loyal zu den Organisationen und FührerInnen, die sie zum politischen Leben erweckt haben, ihnen einen organisierten Ausdruck ihrer Wünsche gegeben und diese in Worte gefasst haben.
Stärken und Schwächen des Bolivarianismus
Das sind zweifellos die Errungenschaften der Bolivarischen Bewegung. Ihre starke Seite ist ihre Verwurzelung in den Massen – bei den Millionen an venezolanischen ArbeiterInnen, Kleinbauern und armen Leuten, die vorher ohne Stimme waren und nun eine Stimme haben. Indem sie diese Millionen auf die Beine gebracht hat und ihnen eine Hoffnung und Stimme gegeben hat, spielte die Bolivarische Bewegung eine sehr fortschrittliche Rolle. Aber neben ihren Stärken finden sich auch viele Schwächen.
Die entscheidendste Schwäche des Bolivarismus ist das Fehlen eines klaren ausgearbeiteten Programms, einer Politik und Strategie, um die Wünsche der Massen zu verwirklichen. Angesichts den Umständen, unter denen die Bewegung groß geworden ist, ist das verständlich. Sie war nicht das Produkt eines ausgearbeiteten Programms, sondern jenes der mächtigen Sehnsucht nach nationaler und sozialer Gerechtigkeit. Zu Beginn stellte das noch kein Problem dar. Es entsprach vollkommen der Psychologie der Massen, die gerade erst damit begannen, zum politischen Leben zu erwachen. Sobald die Menschen erkannten, dass eine echte Möglichkeit bestand, für eine Veränderung zu kämpfen, haben sie diese eifrig wahrgenommen. Dies schuf eine unaufhaltsame Eigendynamik, die nun seit einem Jahrzehnt andauert und die Stützen von Gesellschaft und Politik in Venezuela und darüber hinaus ordentlich erschüttert.
Dialektisch gesehen kann sich allerdings das, was einst eine Quelle der Stärke war zu einem gewissen Zeitpunkt in sein eigenes Gegenteil verkehren. Durch das Fehlen eines wissenschaftlichen Programms und einer eindeutigen Ideologie kommt die Bewegung unter den Druck der widersprüchlichen Klasseninteressen, die sich in ihrer Basis aber besonders in der Führung widerspiegeln. Diese Widersprüche, in letzter Konsequenz Klassenwidersprüche, spiegeln sich auch in der politischen Entwicklung von Chavez selbst.
Die Rolle von Chavez
Kein unvoreingenommener Beobachter kann leugnen, dass Hugo Chavez sich in den letzten zehn Jahren unglaublich entwickelt hat. Ausgehend von einem Programm von revolutionärer Demokratie kam er wiederholte Male in Konflikt mit den venezolanischen Landherren, Bankern und KapitalistInnen, mit der Kirchenhierarchie und dem US-Imperialismus. In all diesen Konflikten hat er sich auf die Massen der ArbeiterInnen, Bauern und armen Leute gestützt, die den wirklichen Motor der Bolivarischen Revolution darstellen, ihre einzige wirkliche Basis.
Schlussendlich hat er sich für Sozialismus ausgesprochen, was eine sehr wichtige Entwicklung darstellt. Wenn auch die Natur dieses Sozialismus in etwa so unklar ist wie der Rest der Bolivarischen Ideologie, füllen ihn die ArbeiterInnen dennoch mit ihrem eigenen Klasseninstinkt. Sie haben die Fabriken besetzt und sie unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt. Die Kleinbauern sind dabei, die großen Landbesitztümer zu besetzen und die Agrarrevolution von unten voranzutreiben.
Die grundlegende Stärke Hugo Chavez´ ist nicht die Klarheit seiner Ideen sondern der Umstand, dass an den größten Sehnsüchten der Massen andockt. Wer jemals an einer Massenveranstaltung in Caracas teilgenommen hat kann die elektrifizierende Chemie bezeugen, die zwischen dem Präsidenten und den Massen besteht. Sie peitschen sich gegenseitig auf. Die Massen erkennen ihre Wünsche in den Sprüchen des Präsidenten, der Präsident geht auf der Basis der Reaktion der Menschen weiter nach links und gibt ihren Wünschen damit erneut einen frischen Impuls.
Das BürgerInnentum ist sich dieser „revolutionäre Chemie“ sehr wohl bewusst und versucht darum, die Verbindung zwischen Chavez und den Massen zu kappen. Mit dem Kalkül, dass dies die Bolivarische Bewegung zersplittern und auflösen würde, planten sie die Ermordung des Präsidenten. Sie organisierten eine Verschwörung in den oberen Rängen der Bolivarischen Bewegung, um ihn mit einem Kandidaten zu ersetzen, der „moderater“ sein würde – also jemanden, der dem Druck des BürgerInnentums eher nachgeben würde. Das hauptsächliche Anliegen im Kampf gegen das Verfassungsreferendum war keineswegs das „Verhindern einer Diktatur“ (kein einziger Punkt des Referendums könnte in diese Hinsicht interpretiert werden). Es ging nur darum, eine weitere Präsidentschaft von Chavez zu verhindern. Das würde der Opposition den Weg zum sogenannten „Chavismus ohne Chavez“ eröffnen.
Es ist bekannt, dass die konterrevolutionäre Bürokratie Chavez von den Massen abschottet, indem sie einen eisernen Ring um den Präsidentenpalast Miraflores errichtet hat. Die Gefahr eines Anschlages auf sein Leben besteht tatsächlich und rechtfertigt hohe Sicherheitsvorkehrungen. Dies kann von FunktionärInnen allerdings auch als Vorwand zur Zensur verwendet werden und um sicherzustellen, dass nur bestimmte Personen Zugang zum Büro des Präsidenten haben, während andere aufgrund politischer Gründe draußen bleiben müssen. Dadurch wird der Druck der Massen und des linken Flügels reduziert, während jener von den Bürgerlichen und den ReformistInnen größer wird.
Warum das Referendum in einer Niederlage endete
Wieder und immer wieder haben die Massen einen unfehlbaren revolutionären Instinkt an den Tag gelegt und die Kräfte der Konterrevolution besiegt. Das erzeugte bei der Führung und auch unter den Massen die gefährliche Illusion, dass die Revolution eine Art Triumphmarsch sei, die automatisch sämtliche Hürden überwinden würde. Anstatt einer wissenschaftlichen Weltanschauung und einer konsequenten revolutionären Politik erfasste eine Art revolutionärer Fatalismus Besitz von den Hirnen der FührerInnen: Alles sei zum besten in der besten aller Bolivarischen Welten. Egal welche Fehler die Führung auch beging, die Massen würden darauf reagieren und die KonterrevolutionärInnen würden bekämpft, die Revolution triumphieren.
Die Schlussfolgerung dieses revolutionären Fatalismus war die Idee, der nach die Bolivarische Revolution alle Zeit der Welt hätte und dass der Sozialismus ohnehin kommen würde, auch wenn wir fünfzig oder hundert Jahre darauf warten müssten. Ironischerweise präsentieren Heinz Dietrich und die anderen diese Idee (oder korrekterweise, dieses Vorurteil) als „neu und erstmalig“. In Wirklichkeit stammt sie direkt aus dem Mülleimer des verrufenen Liberalismus aus dem 19. Jahrhundert. Zur damaligen Zeit glaubte das BürgerInnentum, das damals noch eine fortschrittliche Rolle in der Entwicklung der Produktivkräfte spielte, noch an den unaufhaltsamen Fortschritt – dass es heute besser sei als gestern und morgen besser als heute.
Diese Idee (heute von den Bürgerlichen und ihren „postmodernen“ Philosophen vollkommen verneint) wurde später in der Zeit des kapitalistischen Aufschwungs vor 1914 von den reformistischen FührerInnen der internationalen ArbeiterInnenbewegung übernommen. Die reformistischen SozialdemokratInnen argumentierten, dass die Revolution nicht mehr länger von Nöten sei; dass die Sozialdemokratie langsam, geradlinig und friedlich die Gesellschaft verändern würde, bis der Tag des Sozialismus angebrochen ist, ohne dass es irgendjemand überhaupt bemerken würde. Diese reformistischen Illusionen wurden durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der darauf folgenden Russischen Revolution zerschmettert. Nun werden sie erneut aus dem Geschichtsmülleimer gefischt, abgestaubt und als das allerletzte Wort des sozialistischen „Realismus“ im 21. Jahrhundert präsentiert.
Ein weitere Folge des revolutionären Fatalismus ist die Überzeugung, dass sich die Bolivarische Revolution in das Korsett bürgerlicher Gesetze und Verfassungen zwängen muss. Ironischerweise hat die venezolanische Bourgeoisie sämtliche Gesetze und Verfassungen immer missachtet. Sie beteiligte sich an Wirtschaftssabotage, ständigen Verschwörungen, boykottierte die Wahlen und ging mit gewaltsamen Protesten auf die Straße; sie übte einen Putsch gegen das demokratisch gewählte Staatsoberhaupt aus und hätte wohl nicht gezögert den Präsidenten zu ermorden und eine grausame Diktatur nach dem Vorbild von Pinochets Chile zu errichten, wenn die Massen nicht die revolutionäre Initiative auf der Straße ergriffen hätten.
All das ist bekannt und muss nicht weiter erklärt werden. Wenn das BürgerInnentum seine Klasseninteressen verteidigt hat, zeigte es niemals Respekt für Gesetze und Verfassungen. Von den Massen wird jedoch erwartet, dass sie sich an Punkt und Beistrich der bestehenden Rechtsordnung halten und den „Spielregeln“ vertrauen, als ob es sich um Schach oder Fußball handeln würde. Unglücklicherweise ist der Klassenkampf kein Spiel und hat keine Regeln und Schiedsrichter. Die einzige Regel besteht darin, dass am Ende eine Klasse gewinnen und die andere verlieren muss. Und, wie die Römer zu sagen pflegten: Vae victis! (Wehe den Besiegten!)
Anfangs schienen diese Methoden zu funktionieren. Seit beinahe zehn Jahren zeigten sich die Massen bei jedem Referendum und jeder Wahl loyal und wählten überwältigend für Chavez, für die Bolivarische Revolution, für Sozialismus. Es ist tatsächlich erstaunlich, dass die Massen derartig lange auf diesem Siedepunkt der Aktivität blieben. Es ist in der Geschichte beispiellos, dass eine revolutionäre Situation zehn Jahre lang andauert, ohne eine Lösung entweder in einer siegreichen Revolution oder in der Konterrevolution zu finden.
Die Menschen wählten für eine echte Veränderung ihrer Lebensbedingungen. Dies zeigte sich im Dezember 2006 mit äußerster Klarheit bei den Präsidentschaftswahlen, als sie Chavez die meisten Stimmen in der Geschichte Venezuelas gaben. Das was ein Mandat zur Veränderung. Aber auch wenn einige fortschrittliche Maßnahmen wie Verstaatlichungen ergriffen wurden, stellte sich die Gangart des Wechsels als zu langsam heraus, um die Forderungen und Wünsche der Massen zu befriedigen.
Es wäre für den Präsidenten gut möglich gewesen, ein Ermächtigungsgesetz in die Nationalversammlung einzubringen, mit dem das Land verstaatlicht und die Banken und Schlüsselindustrien unter ArbeiterInnenkontrolle und -management gestellt werden würden. Das hätte die Macht der venezolanischen Oligarchie gebrochen. Und weil in einer Demokratie die gewählten VertreterInnen der Bevölkerung souverän sind, hätte man diese Schritte sogar legal im Parlament beschließen können. Aber lassen wir die Anwälte über diesen Punkt streiten. Die Leute erwarten, dass die von ihnen gewählte Regierung in ihrem Interesse und entschlossen handeln.
Anstatt einem entschlossenen Handeln gegen die Oligarchie, das die Massen begeistert und mobilisiert hätte, gab man ihnen ein weiteres Verfassungsreferendum. Aber wie viele Referenden und Wahlen sind dazu nötig, um das zu vollziehen was die Massen wollen? Die Leute haben genug von all denWahlen, all den Abstimmungen und all den leeren Reden über Sozialismus, die ihnen ein schönes Bild vermitteln aber nichts damit zu tun haben, was sie täglich sehen.
Was sehen die Massen? Nach fast einem Jahrzehnt der Kämpfe sehen sie, dass dieselben reichen und mächtigen Leute immer noch das Land, die Banken, die Fabriken, die Zeitungen und das Fernsehen besitzen. Sie sehen korrupte Leute an den Machtpositionen – Regierende, Bürgermeister, FunktionärInnen des Staates und der Bolivarischen Bewegung, und ja, auch der Miraflores – die rote T-Shirts tragen und über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts sprechen, aber in Wirklichkeit KarrieristInnen und BürokratInnen sind, die nichts mit Sozialismus oder Revolution zu tun haben.
Sie sehen, dass gegen die korrupten Beamten, die ihre Taschen füllen und die Revolution von innen untergraben, keine Maßnahmen ergriffen werden. Sie sehen, dass gegen die KapitalistInnen keine Maßnahmen ergriffen werden, die die Wirtschaft sabotieren indem sie Investitionen in die Produktion verweigern und die Preise steigen lassen. Sie sehen dass keine Maßnahmen gegen jene VerschwörerInnen ergriffen werden, die den Präsident im April 2002 stürzten. Sie sehen Großgrundbesitzer, die unbestraft Bauernaktivisten ermorden. Sie sehen steigende Preise und sie sehen SprecherInnen der Regierung, die all diese Probleme leugnen. Sie sehen all diese Dinge und fragen sich: Ist es das, wofür wir gewählt haben?
Die schädliche Rolle des Reformismus
Die ReformistInnen, StalinistInnen und BürokratInnen, die Schlüsselposten der Bolivarischen Bewegung eingenommen haben, spielen eine schädliche Rolle. Sie wollen die Revolution bremsen, sie von innen heraus lähmen und sämtliche Elemente des echten Sozialismus beseitigen. Diese Elemente erzählen Chavez ständig, nicht zu schnell zu sein, „moderater“ zu handeln und das Privateigentum der Oligarchie nicht anzutasten.
Seit Chavez das erste Mal die Frage des Sozialismus in Venezuela gestellt hat, konzentrieren die ReformistInnen und StalinistInnen all ihre Energien darauf, die Revolution vom Kurs auf den Sozialismus abzubringen, indem sie behaupten, dass die Verstaatlichung von Land, Banken und Industrie in einem Desaster enden würde, dass die Massen noch nicht „reif“ seien für den Sozialismus, dass die Enteignung der Oligarchie die Mittelschicht abschrecken würde usw. Der konsequenteste Vertreter und „Theoretiker“ dieser Kapitulationslinie ist Heinz Dietrich.
Dietrich war gegen das Verfassungsreferendum. Über den Zeitpunkt und Inhalt des Referendums kann man streiten. Unserer Ansicht nach war es nicht notwendig, überhaupt ein Referendum abzuhalten. Notwendig wäre gewesen, auf der Basis des Wahlsieges entscheidende Maßnahmen gegen die Oligarchie und die Konterrevolution zu ergreifen. Das allerdings entsprach überhaupt nicht der Position Dietrichs und der ReformistInnen. Im Gegenteil: Sie waren gegen das Referendum, weil sie gegen eine Orientierung der Bewegung hin zu einer sozialistischen Transformation der Gesellschaft sind. Sie möchten die Revolution stoppen und den Rückwärtsgang einlegen, um der konterrevolutionären Opposition und dem Imperialismus gefällig zu sein.
Am Vorabend des Referendums schloss sich Dietrich öffentlich dem Überläufer Baduel an. Er forderte die Vereinigung von Chavez mit Baduel, was im Klartext bedeutet, dass sich die Revolution mit der Konterrevolution vereinigen sollte. Das war und ist immer noch das Programm Dietrichs und der ReformistInnen. Für sie glich die Niederlage des Referendums herabfallendem Manna vom Himmel. Nun konnten sie ihren Druck auf den Präsidenten erhöhen: „Sehen sie, wohin Ihre Hartnäckigkeit uns gebracht hat? Sie hätten auf uns hören sollen! Wir sind Realisten. Wir verstehen die Dinge besser als Sie! Sie dürfen nicht so schnell machen. Werfen Sie alle Gedanken an Sozialismus über Bord und erreichen Sie einen Kompromiss mit der Opposition und der Bourgeoisie, sonst sind wir verloren.“
Die knappe Niederlage des Referendums wird nun als Stimmungsumschwung in Richtung „Zentrum“ dargestellt – also nach rechts – und als Beweis dafür, dass man sich mit der Mittelklasse in Einklang bringen müsse (was bedeutet, vor dem BürgerInnentum zu kapitulieren). Dietrich und die ReformistInnen gehen mit dieser Vorgehensweise eifrig hausieren. Solange Chavez auf sie hört – und es gibt gewisse Anzeichen, dass er das tut – wird sich die Revolution in größter Gefahr befinden.
Diese „Freunde“ der Bolivarischen Revolution gleichen den Freunden Hiobs, die ihn in seiner Not damit trösteten, ihm die Zähne auszutreten. Solche „Freunde“ erinnern uns an den alten Spruch: Wer solche Freunde hat, benötigt keine Feinde mehr.
Ein gefährlicher Schritt
Chavez befolgte den Rat jener, die ein Übereinkommen mit den KonterrevolutionärInnen erwirken wollen und amnestierte eine Reihe von OppositionsführerInnen, die mit dem Putsch im April 2002 und dem Produktionsstillstand in der Erdölindustrie in Verbindung stehen, der der Wirtschaft zehn Milliarden Dollar kostete und der beinahe die Revolution zerschmettert hätte.
Rufen wir uns in Erinnerung, dass das „Carmona Dekret“ der Putschregierung demokratisch gewählte öffentliche Institutionen wie den Obersten Gerichtshof und die Nationalversammlung aufgelöst hat. Jene, die dieses schändliche Dokument unterschrieben haben, sollen nun amnestiert werden. Sie sind frei, ihre konterrevolutionären Tätigkeiten fortzusetzen.
Chavez sagte, er hoffe dass die Amnestie „eine Botschaft an das Land“ senden würde, „dass wir trotz unserer Differenzen zusammen leben können“. Das ist offensichtlich ein Versuch zur „Nationalen Aussöhnung“, der den gut bekannten Rezepten Dietrichs folgt. Das ist ein sehr gefährlicher Schritt. Falls der Putsch geglückt wäre – was geschehen wäre, hätte es nicht die revolutionäre Bewegung der Massen gegeben – wer kann sich vorstellen, dass sich die KonterrevolutionärInnen ähnlich verhalten hätten? Sie hätten Chavez und viele seiner UnterstützerInnen ermordet und wären mit reinem Bewusstsein zu Bett gegangen.
Nach der Logik der ReformistInnen würde eine versöhnlerische Politik zum Dialog führen und die Opposition dazu zwingen, eine vernünftigere Richtung einzuschlagen. In Wirklichkeit ist dieses Argument ohne Basis. Chavez hat das in verschiedenen Angelegenheiten bereits wiederholte male in der Vergangenheit gemacht. Die Ergebnisse waren das genaue Gegenteil dessen, was die ReformistInnen vorhergesagt haben. Das zeigte sich nach dem Putsch im April 2002, als der Präsident der Opposition Verhandlungen angeboten hatte. Was war das Ergebnis? Keine nationale Aussöhnung sondern Wirtschaftssabotage. Auch nach der Sabotage lud Chavez erneut zum Verhandlungstisch ein. Das einzige Resultat war ein erneuter Versuch, den Präsidenten durch ein Abwahlreferendum zu stürzen.
Aber vielleicht hat die Opposition ihre Lektion gelernt. Vielleicht ist sie nun zu Kompromissen bereit? Wie hat die konterrevolutionäre Opposition auf das Dekret reagiert? Drängten sie sich darum, Chavez zu umarmen? Nein! Die reaktionäre Hierarchie der Katholischen Kirche nennt es „diskriminierend“ und fordert die Ausweitung der Amnestie auf PolizistInnen, die des Mordes schuldig sind sowie auf andere berüchtigte KonterrevolutionärInnen wie den 40 Jahre alten Führer der oppositionellen StudentInnen Nixon Moreno, der aufgrund einer versuchten Vergewaltigung einer Polizistin in Merida gesucht wird. Eine der ProfiteurInnen der Amnestie ist Monica Fernandez, die während des Putsches die illegale Verhaftung von Ex-Minister Ramon Rodriguez Chacin angeordnet hat. Nun fordert sie die Ausweitung der Amnestie auf „politische Flüchtlinge“ wie Carmona Estanga und Ortega.
Diese Kriminellen, die keinen Willen der Reue zeigen, haben nun freie Hand für weitere konterrevolutionären Tätigkeiten. Dies provozierte die berechtigte Entrüstung der chavistischen Basis. Manuel Rodriguez sagt, dass der Präsident das Dekret nicht unterschreiben hätte sollen. „Wo waren unsere Menschenrechte, als sie [die Opposition] das Land lahmgelegt haben?“, fragte er.
Sollte die Revolution verlangsamt werden?
Mit der „Hilfe“ seiner reformistischen BeraterInnen zog der Präsident einige falsche Schlüsse aus dem Referendum. Während „Alo Presidente“ am 6. Januar 2008 sagte er:
„Ich bin dazu gezwungen, die Gangart des Marsches zu verlangsamen. Ich verlangte eine Geschwindigkeit, die über den kollektiven Fähigkeiten und Möglichkeiten steht; ich akzeptiere das, und einer meiner Fehler liegt genau hier. Die VorkämpferInnen dürfen nie den Kontakt zu den Massen verlieren. Sie müssen bei den Massen bleiben! Ich werde bei euch bleiben und darum muss ich meine Geschwindigkeit reduzieren. [...]
„Das ist nicht der Geist der Kapitulation oder der Mäßigung, überhaupt nicht. Es ist Realismus. Realismus! Gelassenheit, Geduld, revolutionäre Festigkeit. Niemand muss sich fehlgeleitet oder demoralisiert fühlen [...]
„Ich bevorzuge es, die Geschwindigkeit zu reduzieren, die Beine, Arme, das Hirn, den Körper, die Organisationen des Volkes und dessen Macht zu stärken. Und wenn wir dann später fertig sind, werden wir den Marsch beschleunigen.“
Diese Worte werden in den Ohren all dieser BürokratInnen und ReformistInnen, die rote T-Shirts tragen aber dem Sozialismus grundlegend Feind sind und alles daran setzen, die Revolution entgleisen zu lassen, wie Musik klingen. Diese Leute schreien immer „Realismus“ und der Notwendigkeit einer langsameren Gangart. Sie reden über den Sozialismus des 21. Jahrhunderts, würden aber den Sozialismus in Wirklichkeit am liebsten ins 22. oder 23. Jahrhundert, oder noch besser: für immer verschieben. Der Präsident fuhr fort:
„Unsere Bündnisstrategie bedarf einer Verbesserung. Wir können uns nicht selbst durch extremistische Tendenzen entgleisen lassen. Wir sind weder Extremisten noch können wir welche sein. Nein! Wir müssen mit der Mittelklasse und dem BürgerInnentum Bündnisse schmieden. Wir können nicht die unterstützen, die die Abschaffung des Privateigentums fordern und damit in der gesamten Welt gescheitert sind. Das gehört nicht zu unseren Thesen.“
Diese Statements haben wir bereits vorher schon gelesen – in den Artikeln und Reden von Heinz Dietrich, dem Ex-Marxisten, der nun in das Lager des Reformismus und der Bourgeoisie übergelaufen ist. Wenn wir diese Worte lesen bekommen wir einen klaren Eindruck davon, welche Tendenz nun im Miraflores die Oberhand gewonnen hat. Eine Tendenz, die über die letzten Jahre sehr geduldig und systematisch gearbeitet hat, gegen Sozialismus und Revolution intrigiert hat und danach trachtet, Chavez von den Massen und dem revolutionären Flügel zu isolieren.
Sind wir ExtremistInnen? Nein, wir sind revolutionäre SozialistInnen, MarxistInnen. Nur die GroßgrundbesitzerInnen, Banker und KapitalistInnen können im Sozialismus etwas „Extremes“ entdecken. Aber sie sind nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft. Die überwältigende Mehrheit der Leute sehen im Sozialismus etwas ziemlich normales und überhaupt nichts extremes. Der Präsident hat öfter als einmal gesagt, dass Kapitalismus Sklaverei darstellt. Ist es „extrem“, sich die Abschaffung der Sklaverei zu wünschen? Nur die SklavenhalterInnen würden das sagen.
Wollen wir die Abschaffung des gesamten Privateigentums? Nein, wir wollen das Privateigentum der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung – jenes der ArbeiterInnen, Angestellten, Kleinbauern, kleinen LadenbesitzerInnen und der Mittelklasse – nicht angreifen. Wir beabsichtigen nicht die Kollektivierung von Auto, Haus oder Fernseher des Nachbarn geschweige denn seiner Frau und Kinder. Das sind die lächerlichen Lügen, die die konterrevolutionäre Opposition in ihrer verleumderischen Kampagne zur Wahl für ein „Nein“ beim Referendum verwendet hat.
Was wir befürworten ist die Enteignung der Oligarchie: Die Verstaatlichung des Bodens, der Banken und der Schlüsselindustrien. Das betrifft weniger als zwei Prozent der Bevölkerung: Nicht die Mittelklasse sondern die superreichen SpekulantInnen und Parasiten, die zur Entwicklung Venezuelas rein gar nichts beitragen, sondern die Produktion ständig sabotieren, indem sie künstliche Engpässe und Preiserhöhungen schaffen. An Dietrich und die anderen ReformistInnen stellen wir eine sehr einfache Frage: Wie ist es möglich, ohne die Enteignung der Oligarchie Sozialismus zu erreichen?
Venezuelas BIP ist um 8,4% gewachsen. Aber es gibt ernsthafte Probleme. Die Inflation beträgt offiziell 22,5%. Die steigenden Preise treffen die ärmsten Schichten um vieles härter als die Bessergestellten. Es gibt fortwährend Nahrungsmittelengpässe die solch grundlegende Produkte wie Milch, Bohnen und Huhn betreffen. Das zeigt die vollkommene Unzulänglichkeit der privaten Landwirtschaft Venezuelas. Ein potentiell reiches und fruchtbares Land muss über 70% seiner Nahrungsmittel importieren – eine skandalöse Situation.
Der Mangel an Nahrungsmitteln als Ergebnis geplanter Sabotage der kapitalistischen Großbauern und der monopolistischen Großhändler spielte in der Niederlage des Verfassungsreformreferendums eine wichtige Rolle. Wie haben die zuständigen Ministerien darauf reagiert? Sofort nach dem Referendum wurde bekanntgegeben, dass die Preiskontrollen für Milch aufgebohen werden und dass es Gespräche über die Aufhebung dieser Kontrollen über eine ganze Serie anderer Produkte gibt. Auch das sind Zugeständnisse an die Oligarchie.
Es gibt eine sehr einfache Lösung für das Problem der Nahrungsmittelknappheit: Die Enteignung aller Konzerne und Individuen, die an der Sabotage der Nahrungsverteilungskette Anteil haben. Diese Maßnahme, die absolut demokratisch ist, hätte schon vor langem ergriffen werden können, aber vor allem seit der Verabschiedung des Dekretes über das Horten und die Sabotage vor fast einem Jahr. All das enteignete Land, die Einrichtungen und die Ausrüstung sollten unter die demokratische Kontrolle von Komitees gestellt werden, die sich aus VertreterInnen der Kleinbauern und ArbeiterInnen zusammensetzen und die Verteilung der Lebensmittel an die Massen garantieren. Zusätzlich sollten in allen armen Gegenden und ArbeiterInnenvierteln Versorgungskomitees aufgestellt werden, um die revolutionäre Überwachung über die Verteilung der Nahrung auszuüben und den Kampf gegen das Horten, Sabotage, Korruption und Geschäftemacherei zu führen.
Diese Fakten zeigen die Unzulänglichkeit der Marktwirtschaft in Venezuela. Die GroßgrundbesitzerInnen und KapitalistInnen entweder können oder wollen die grundlegenden Probleme der Wirtschaft nicht lösen. Der einzige Weg zur Beendigung der Sabotage und um sicherzustellen, dass das enorme wirtschaftliche Potential Venezuelas dem Wohle seiner Bevölkerung zukommt, ist die Verstaatlichung des Oligarchen-Eigentums und der Aufbau einer sozialistischen Planwirtschaft, die demokratisch von der ArbeiterInnenklasse führt wird.
Lukaschenkos Ratschlag
Wie glücklich kann sich Venezuela schätzen, so viele Ratschläge erteilt zu bekommen! Es hat Eimer an Ratschlägen, tonnenweise Ratschläge, Lastwagenladungen an Ratschlägen und Zugladungen an Ratschlägen. Wäre jeder einzelne Ratschlag einen Bolivar wert, wäre jedeR BürgerIn Venezuelas MillionärIn. Wie es scheint hat auch Lukaschenko, der Präsident Weißrusslands, Chavez Ratschläge erteilt.
Bevor man allerdings jemandes Ratschlag annimmt, sollte man zuerst dessen Berechtigungsnachweis inspizieren. Immerhin würden wir auch von einem chronischen Alkoholiker keinen Rat über die Gefahren des Trinkens annehmen, oder welche über die sensiblen Punkte einer Gehirnoperation von einem Schlachter. Uns wird erzählt, Lukaschenko hätte den „Zusammenbruch der Sowjetunion miterlebt“. Ja, er hat ihn nicht nur erlebt, sondern er war teilweise verantwortlich dafür. Die UdSSR wurde von einer parasitären Kaste an BürokratInnen, die einen großen Teil des von den sowjetischen ArbeiterInnen geschaffenen Mehrwertes abgesaugt haben, von innen zerstört.
Durch Diebstahl, Pfusch und Missmanagement untergrub diese bürokratische Kaste in der UdSSR die Errungenschaften der verstaatlichten Planwirtschaft. Man kann sagen, sie handelten ähnlich wie die konterrevolutionäre Bürokratie in Venezuela, die die Revolution noch erwürgen bevor sie wirklich geboren ist. Lukaschenko war in der alten Sowjetunion ein Mitglied dieser privilegierten bürokratischen Kaste.
In den alten Tagen nannten sie sich selbst „KommunistInnen“ und standen am Ersten Mai auf Tribünen, wo sie Reden über Sozialismus schwangen. Inzwischen wurden sie zu den Freuden des Kapitalismus und der Marktwirtschaft bekehrt. Aus ihnen wurden Geschäftsmänner. In Venezuela trägt dieselbe Art an BürokratInnen rote T-Shirts und steht ebenso auf Tribünen, wo sie Reden über Sozialismus schwingt. Sie haben mit Sozialismus genauso viel gemeinsam wie Lukaschenko.
Wie viele Ratschläge! Und wie günstig, dass alle Ratschläge in dieselbe Richtung weisen: „Sei kein Trottel, Chavez! Mach mal nicht zu schnell! Vergiss das mit dem Sozialismus! Hör nicht auf die ArbeiterInnen und Kleinbauern: Das sind Idioten! Hör auf die Typen mit der Knete! Bring sie einfach nur dazu, gute PatriotInnen zu sein und in Venezuela zu investieren. Dann wird alles gutgehen!“
Lukaschenko hat Chavez anscheinend folgendes erzählt: „Die UnternehmerInnen, dieses nationale BürgerInnentum – du musst ihnen ein Nationalgefühl geben, damit sie die Nation und das Vaterland lieben, sogar wenn sie UnternehmerInnen sind und Geld haben. Sie müssen im Land investieren!“
Wären die Folgen nicht so ernst, wäre das ziemlich witzig. Wir wissen nicht, welches nationale BürgerInnentum in Weißrussland existiert. Was wir allerdings wissen ist, dass das venezolanische BürgerInnentum nicht in Venezuela investiert. Wir wissen, dass es Kapitalflucht gibt. Wir wissen, dass es Wirtschaftssabotage gibt. Wir wissen dass die vorherrschende Spekulation die Regale mit notwendigen Produkten leert und die Preise nach oben treibt. Wir wissen dass die Fabriken schließen und die ArbeiterInnen auf die Straße geworfen werden. Das wissen wir. Und wir wissen auch, wer dafür verantwortlich ist und warum.
Was schlägt der weißrussische Präsident vor? Er schlägt vor, dass wir die venezolanischen KapitalistInnen darum bitten, sich zu benehmen, ihre Sabotage zu beenden und patriotisch zu sein. Das wäre, als ob man Birnen von einem Tannenbaum verlangen würde. Die KapitalistInnen werden sich von patriotischen Lektionen nicht beeindrucken lassen. Liegt es in ihrem Interesse, die Bolivarische Revolution zu unterstützen? Wir haben ihre Haltung in den letzten Jahren gesehen. Nur ein Blinder könnte es übersehen, dass die Bourgeoisie der Revolution und allem wofür sie steht extrem feindlich gegenübersteht.
Eine Aussöhnung der Interessen des Proletariates mit jenen der Bourgeoisie ist unmöglich. Man kann entweder die Interessen der großen Mehrheit der Gesellschaft, der ArbeiterInnenklasse, unterstützen, oder man kann die Interessen der Banker, GroßgrundbesitzerInnen und KapitalistInnen unterstützen, einer kleinen und wohlhabenden Minderheit. Aber man kann nicht beide unterstützen. Indem sie die Aussöhnung unaussöhnbarer Klasseninteressen versuchen, unterstützen die ReformistInnen schlussendlich die herrschende Klasse gegen die ArbeiterInnenklasse.
Die Frage des Staates
Chavez hat eine „tiefgreifende Umbildung“ seiner Regierung angekündigt, die die Ernennung eines neuen Vizepräsidenten und Änderungen in 13 von 27 Ministerien bedeutet. Innerhalb der letzten zehn Jahre hat es viele solcher Umbildungen gegeben. Die MinisterInnen haben sich mit irrer Geschwindigkeit die Klinke in die Hand gedrückt, aber das löst gar nichts. Von Nöten ist kein ständiges Neumischen der Karten an der Spitze sondern die Umsetzung sozialistischer Politik.
Der Präsident möchte mit der Korruption fertigwerden, die er korrekterweise als eine der größten Gefahren für die Revolution nennt. Es ist allerdings nicht möglich, bürokratische Probleme mit bürokratischen Mitteln zu lösen. Der einzige Weg zur Entwurzelung von Korruption und Bürokratie führt über die generelle Umsetzung von ArbeiterInnenkontrolle und -management, die Begrenzung von Funktionärsbezügen auf dem Level eines FacharbeiterInnenlohns und der automatischen Abwahl jedes/r Beamten/Beamtin, Ministers/in, Regierenden oder BürgermeisterIn, die nicht nach dem Willen der Bevölkerung handelt.
Zehn Jahre nach dem Anbruch der Revolution besteht immer noch der alte Staat, der von der Vierten Republik geerbt wurde. Das ist das Problem! Die gesamte Geschichte beweist die Unmöglichkeit einer erfolgreichen Revolution ohne die Liquidierung des alten Staatsapparates, der eine ständige Quelle für Korruption, Bürokratie und Unterdrückung sein wird. Aber die ReformistInnen wollen davon nichts hören. Sie sagen, dass die Massen unreif seien, zu regieren. Wer aber sind nun die Leute, die zur Leitung einer sozialistischen Gesellschaft am besten ausgesattet sind: Die BürokratInnen und KarrieristInnen oder die arbeitenden Leute selbst?
Im von den ArbeiterInnen vor ein paar Jahren besetzten und seither von ihnen selbst verwalteten Betrieb Inveval gibt es ArbeiterInnenkontrolle, und von den Reinigungskräften bis zu den Direktoren erhalten alle dieselbe Bezahlung. Vor nicht allzu langer Zeit sagte Chavez, dass dies ein Musterbeispiel für andere Betriebe sei, und so ist es. Wir wollen nicht die Erfahrungen jener bürokratischen und totalitären Karikatur jenes „Sozialismus“, der in der UdSSR zusammenbrach, wiederholen. Benötigt ist eine Rückkehr zum demokratischen Programm, das von Lenin und Trotzki vorgeschlagen wurde – das Programm der ArbeiterInnendemokratie.
Wie man Wahlen verliert...
Die Revolution hat im Verfassungsreferendum einen Rückschlag erlitten. Aber das war keineswegs eine entscheidende Niederlage. Es können viele Faktoren dazwischenkommen, die die Situation sogar in den nächsten paar Monaten noch verändern. In diesem Jahr werden im ganzen Land Gouverneurs- und BürgermeisterInnenwahlen stattfinden. Durch das Resultat des Referendums ermutigt wird die konterrevolutionäre Opposition klarerweise all ihre Kräfte auf die Rückgewinnung von Positionen und Posten mobilisieren. Die Frage ist: Können die BolivaristInnen die Massen mobilisieren und die Opposition zurückschlagen?
Chavez besteht darauf, dass klargestellt wird, dass man keinen Boden an die Konterrevolution verlieren darf: „Seien wir vorbereitet, denn am Ende des Jahres wird es Wahlen geben“, meinte er. „Die Konterrevolution wird keine Sekunde ruhen, um Raum für sich zurückzuerobern. Stellt euch eine Sekunde die Folgen vor, falls sie damit Erfolg hätten“, warnte er. Der Präsident drängt auf die Festigung der Vereinigten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV). Für die Gründungskonferenz der neuen Partei nannte er das Datum des 12. Januars. Er sagte auch, dass der ehemalige Vizepräsident Jorge Rodruigez nun der Kopf des landesweiten PSUV Unterstützungskomitees sein werde. Rodriguez wird als links-außen gesehen.
„Ich bitte alle um ihre Energie und ihren Willen, den die neue Partei für ihre Konsolidierung benötigt“, meinte er. Es wird erwartet, dass der Kongress einen Monat lang stattfinden und über das politische Programm, die Struktur und den Status der neuen Partei entscheiden soll.
Die Gründung der PSUV war ein sehr wichtiger Schritt. Die Partei kann allerdings erst dann erfolgreich sein, wenn sie fest auf dem Sozialismus steht. Chavez erwähnte die fünf „Motoren“ der Revolution, seine Pläne für den sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Venezula und bestand darauf, dass seine Regierung weiter laut Plan arbeitet. Gleichzeitig klagte er aber darüber, dass aufgrund der Niederlage im Verfassungsreferendum viele Änderungen nicht möglich seien. „Wir können damit nicht weitermachen, weil sie von der Verfassungsreform abhängen.“
Warum aber sollte die Revolution es der Opposition erlauben, ihr auf der Basis einer knappen Mehrheit im Referendum zu diktieren, was sie tun darf und was nicht? Warum sollte man es dem Schwanz erlauben, mit dem Hund zu wackeln? Dieser Weg führt zur weiteren Enttäuschung der Massen, die aufgrund der langsamen Gangart der Veränderungen ohnehin schon desillusioniert sind. Er führt zu einer Stimmung der Apathie und zu weiteren Enthaltungen in den zukünftigen Wahlen. Genau das ist das Ziel der Opposition.
Chavez rief für die Wahlen der Gouverneure und BürgermeisterInnen im Oktober dieses Jahres zu einer Koalition der „Patriotischen Kräfte“ auf, die aus PSUV, Heimat Für Alle (PPT) und der Kommunistische Partei Venezuelas bestehen soll. Die PSUV ist eine Massenpartei mit Millionen an Mitgliedern und UnterstützerInnen, die für den Sozialismus kämpfen wollen. Weshalb muss sie sich mit der PPT verbünden, einer sehr kleinen Partei mit opportunistischer Politik? Man könnte sagen, dass eins plus eins zwei ergibt – aber zwei Leute, die in einem Boot sitzen und in die entgegengesetzte Richtung rudern, ergeben Stillstand.
Die venezolanischen MarxistInnen werden die PSUV unterstützen und auf der Konferenz für ein sozialistisches Programm und eine ebensolche Politik kämpfen. Wir sind gegen Bündnisse mit Parteien und Organisationen, die nicht konsequent für den Sozialismus kämpfen. Wir sind gegen Bündnisse und Blöcke mit dem BürgerInnentum. Wir warnen, dass die von den ReformistInnen verfochtene Politik der Aussöhnung mit den reaktionären Kräften nicht zu einer landesweiten Aussöhnung und Frieden führen werden. Im Gegenteil: Die Politik der Klassenkollaboration wird die AktivistInnen der Bolivarischen Bewegung, die Stoßtruppen der Revolution, demotivieren und enttäuschen. Sie wird die konterrevolutionären Kräfte ermuntern. Für jeden Schritt zurück werden sie zehn weitere verlangen. Das ist der sichere Weg, Wahlen zu verlieren.
...und wie man sie gewinnt
Der Präsident sagte auch: „Wir müssen Bündnisse schmieden, um den neuen hisorischen Block zu stärken, wie Gramsci es genannt hat. Vor noch einem Jahr haben wir die Wahlen mit 63% aller Stimmen gewonnen, sieben Millionen WählerInnen. Wir haben hier eine starke Basis.“
Ja, vor einem Jahr wählten über sieben Millionen für Chavez. Das stellt tatsächliche eine sehr starke Basis dar. Eine Frage muss allerdings gestellt werden: Warum haben fast drei Millionen dieser WählerInnen nicht beim Verfassungsreferendum teilgenommen? Dietrich sagt: Weil Chavez zu weit gegangen ist, zu schnell und darum nun verlangsamen muss. Aber dieses Argument ist bis ins Mark falsch. Die Opposition hat das Verfassungsreferendum nicht gewonnen – die Bolivarische Bewegung hat es verloren. Nach übermenschlichen Anstrengungen konnte die Opposition ihren Stimmenanteil um nur 200 000 heben, während die Chavistas über drei Millionen WählerInnen verloren haben. Das beweist nicht, dass es einen Meinungsumschwung in Richtung „Zentrum“ gibt sondern dass im Gegenteil eine enorme und weiter wachsende Polarisierung zwischen den Klassen stattfindet. Es zeigt auch, dass es unter den Massen an der Basis der Bolivarischen Bewegung Elemente von Müdigkeit und Desillusionierung gibt.
Die Niederlage im Verfassungsreferendum war eine Warnung, dass die Massen einer Situation überdrüssig werden, in der das endlose Gerede über Sozialismus und Revolution zu keiner fundamentalen Veränderung in ihren Lebensbedingungen geführt hat. Die Menschen waren sehr geduldig, doch ihre Geduld ist erschöpft. Die Vorstellung, dass sie immer ihren FührerInnen folgen würden – diese falsche und gefährliche Idee des revolutionären Fatalismus – hat sich als komplett hohl erwiesen.
Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die langsame Gangart der Revolution führt zur Ernüchterung unter einer wachsenden Schicht an Menschen. Ihr Problem liegt nicht darin, dass die Revolution zu zu schnell zu weit ging, sondern dass sie langsam ist und bisher nicht weit genug ging. Eine solche Situation wird die Gegenoffensive der reaktionären Kräfte vorbereiten, die die Revolution untergraben wird und das Vorspiel für eine ernsthafte Niederlage sein kann. Es ist an der Zeit, Worten Taten folgen zu lassen, entschlossene Maßnahmen zur Entwaffnung der Konterrevolution zu ergreifen und die Oligarchie zu enteignen.
Sozialismus – der einzige Weg!
Ist die Niederlage unaufhaltbar? Nein, natürlich nicht. Unter der Bedingung, dass der stalinistisch-reformistische Dietrich bloßgestellt und politisch bekämpft wird, kann die Revolution siegreich sein. Die Bewegung muss sich sämtlicher BürokratInnen, KarrieristInnen und bürgerlichen Elementen entledigen und fest auf einem sozialistischen Programm stehen. Unter dieser Bedingung kann sie erfolgreich sein, anders nicht.
Als Simon Bolivar erstmals den Banner einer Revolte gegen die Macht des spanischen Imperiums erhob, schien dieses Ansinnen vielen komplett unmöglich. Hätte Heinz Dietrich zu jener Zeit gelebt, hätte er den Befreier zweifelsohne mit Verachtung übergossen, wie er es heute mit den MarxistInnen macht. Dennoch triumphierte Bolivar schlussendlich. Begonnen mit einer handvoll an UnterstützerInnen triumphierte er, weil er die Massen für den Kampf gegen die Oligarchie gewinnen konnte – wie Chavez, dessen Ansinnen anfangs ebenso hoffnungslos erschien. Der Kampf ist noch nicht vorbei und der Sieg ist keineswegs garantiert. Das ist er niemals. Aber eines steht fest: Der einzige Weg zum Erfolg liegt darin, die Massen zum revolutionären Kampf zu erwecken.
Entweder die größten Siege oder die schrecklichsten Niederlagen: Das sind die einzigen beiden Alternativen, vor denen die Bolivarische Bewegung steht. Alle, die einen einfachen Weg versprechen, den Weg des Klassenkompromisses, spielen in Wirklichkeit eine reaktionäre Rolle, indem sie falsche Hoffnungen und Illusionen schüren und die Massen vor dem Angesicht der Konterrevolution entwaffnen. Diese kennt keine derartigen Illusionen und bereitet sich auf den Sturz Chavez´ vor, der so bald stattfinden soll, als es die Bedingungen erlauben. Verhindert werden kann dies nur durch die Liquidierung der wirtschaftlichen Macht der Oligarchie, der Enteignung der GroßgrundbesitzerInnen, Banker und KapitalistInnen sowie die Einführung eines sozialistischen Produktionsplanes.
Dietrich und die ReformistInnen warnen, dass derartige Handlungen die ImperialistInnen und ReaktionärInnen provozieren würden. Das ist absurd. Imperialismus und Reaktion haben in all ihren Aktionen gezeigt, dass man sie gar nicht erst provozieren muss. Sie arbeiten fortwährend an der Zerstörung der Revolution. Der Glaube daran, dass sie ihre konterrevolutionären Handlungen einstellen werden, sobald wir „Mäßigung zeigen“ und uns mit den Reaktionären aussöhnen ist dumm und sehr gefährlich. Ein solches Verhalten würde sie sogar bestärken und weiter ermutigen.
Die venezolanische Revolution kann natürlich nicht vollendet werden, solange sie isoliert bleibt. Das wäre sie allerdings ohnehin nicht lange. Das revolutionäre Venezuela muss alle ArbeiterInnen und Kleinbauern des restlichen Lateinamerikas dazu aufrufen, ihrem Beispiel zu folgen. Angesichts der bestehenden Bedingungen auf dem Kontinent würde ein derartiger Appell auf keine tauben Ohren fallen. Das Beispiel eines demokratischen ArbeiterInnenstaates in Venezuela hätte einen weit größeren Einfluss als Russland 1917.
Angesichts der enormen Stärke der dortigen ArbeiterInnenklasse und der Ausweglosigkeit des Kapitalismus weltweit würden die bürgerlichen Regime in Lateinamerika überall schnell fallen, womit eine Bais für eine Sozialistische Föderation Lateinamerikas und schlussendlich für den weltweiten Sozialismus geschaffen werden würde. Auf der Grundlage eines gemeinsamen Produktionsplanes und der Verstaatlichung der Banken und Monoole unter demokratischer ArbeiterInnenkontrolle und -management würden die Produktivkräfte des gesamten Kontinentes vereinigt werden, womit folglich eine kolossale Produktivkraft geschaffen werden würde. Arbeitslosigkeit und Armut würden der Vergangenheit angehören.
Der Arbeitstag könnte bei vollem Lohnausgleich sofort auf 30 Stunden pro Woche reduziert werden. Als Demonstration der Überlegenheit sozialistischer Methoden würde diese Reform weltweit immense Folgen hervorrufen. Noch wichtiger ist aber, dass diese Maßnahme – wie Lenin erklärt hat – der gesamten ArbeiterInnenklasse die notwendige Zeit geben würde, um Industrie und Staat zu leiten. Dann würde ein sozialistischer Produktionsplan, der von unten bis oben von der ArbeiterInnenklasse kontrolliert wird, trotz der Arbeitszeitreduzierung zu einem immensen Produktionswachstum führen. Wären erst Wissenschaft und Technik von den Ketten des privaten Profits befreit, würden sie sich in einem unerhörten Ausmaß entwickeln.
Die Demokratie hätte nicht länger ihren gegenwärtigen beschränkten Charakter sondern würde sich in der demokratischen Verwaltung der Gesellschaft durch die gesamte Bevölkerung ausdrücken. Damit wäre die Basis gegeben für ein enormes Erblühen von Kunst, Wissenschaft und Kultur, aufbauend auf dem reichen kulturellen Erbe aller Völker des gesamten Kontinents. Genau das meinte Engels mit dem Sprung der Menschheit vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit. Das ist der echte Sozialismus des 21. Jahrhunderts: Für die venezolanische Revolution der einzige Weg nach vorne.
London, 11. Januar 2008
Source: derfunke.at