Die Parlamentswahlen in Kosova am 14 . Februar 2021 endeten mit einen umfassenden erdurtschartigen Wahlsieg der linken „Bewegung für Selbstbestimmung“ Vetevendosje (VV).
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Unterm Strich verbesserte sich VV schlagartig um 20 Prozentpunkte – von 27,7 Prozent bei der letzten Wahl 2019 auf nunmehr 47,85 Prozent. Weit abgeschlagen auf Platz landete mit 17,41% die von Hashim Thaci gegründete „Mitte-Rechts“-Partei PDK (Demokratische Partei Kosovas). Die langjährige bürgerlich-konservative Regierungspartei LDK (Demokratische Liga Kosovas, Bruderpartei der deutschen CDU) kam nunmehr nur noch auf 13,08 Prozent. Die ebenfalls rechte AAK (Allianz für die Zukunft Kosovas) des ehemaligen UCK-Kommandanten Ramush Haradinaj blieb bei 7,43% hängen. Nisma-Sozialdemokrat (Sozialdemokratische Initiative) erzielte nur 2,6% und wird damit nicht im Parlament vertreten sein.
Nach aktuellem Stand kann VV mit 56 von 120 Sitzen im Parlament rechnen. Es gilt als sicher, dass aus der Reihe der 20 Parlamentarier, die auf dem Ticket nationaler Minderheiten (Serben, Roma, Gorani, Askhali) gewählt wurden, ausreichend Stimmen kommen werden, um eine neue Regierung mit absoluter Mehrheeit zu bilden und zu stützen.
Dies markierte einen wichtigen Umbruch nach Kurtis kurzer Regierungszeit zwischen Februar und Juni 2020. Seine Regierung, die sich auf die Unterstützung der LDK verließ, wurde in einem von Ex-US-Präsident Trump angezettelten Manöver begraben. Dadurch wurden die vorgezogenen Neuwahlen ausgelöst.
VV erwies sich als die überwältigende Wahl der Jugend (die Hälfte der Bevölkerung in Kosovs ist unter 25 Jahre alt), der Arbeiter und Kleinbauern. In allen großen Städten gewann VV mit großem Abstand. In der Hauptstadt Prishtina gewann die VV mit 64 Prozent. Aber sie gewann auch in wichtigen Städten wie Prizeren, Ferizaj und in Mitrovica.
Arbeiter, Frauen und Jugendliche haben hohe Erwartungen an eine VV-Regierung
Das Wahlergebnis könnte sich noch weiter zugunsten von VV verschieben, denn mehr als 47.000 Stimmen von Auslands-Briefwählern aus der „Diaspora“ sind noch nicht ausgezählt. Es ist bekannt, dass die Mehrheit der albanischen Emigration und der albanischen Arbeiter in der Schweiz, Österreich Deutschland und Großbritannien hinter VV steht. Vielen Arbeitern aus den besagten Ländern verweigerten die staatlichen Behörden allerdings durch ein äußerst kompliziertes Verfahren faktisch die Wahlteilnahme. Die Wahl per Internet war etwas für Spezialisten. Denn nach abgegebener elektronischer Stimme mussten diese Wähler für die Wahlkommission KOZ telefonisch erreichbar sein. Dadurch wurde der Manipulation Tür und Tor geöffnet. Die Wahlteilnahme lag bei etwas mehr als 44%. Das waren etwas mehr als bei der letzten Wahl. Kosova hat offiziell 2,8 Millionen Einwohner.
VV-Spitzenkandidat Albin Kurti gilt als charismatischer Redner und erreichte mehr als 370.000 persönliche Vorzugsstimmen. Das ist mehr als der sagenumwobene Ibrahim Rugova im Jahr 2001 erreicht hatte. VV bezeichnet sich selbst als sozialdemokratische Partei. Obwohl ihre Hauptwurzeln in der links-nationalistischen Volksbewegung zu finden sind, die zur Unabhängigkeit von Kosova führte, liegt der Schwerpunkt der Politik von Kurti auf sozialen Fragen. Genau darin liegt der Hauptgrund für den dramatischen Zulauf.
Das VV Programm ist bei Licht betrachtet linkssozialdemokratisch und reformistisch, ein Reformprogramm, das einige der grundlegenden Bedürfnisse der Arbeiterklasse und der Jugend aufgreift. Gefordert wird ein Ende der Privatisierung wichtiger Ressourcen und Bodenschätze Kosovas. Weitere Forderungen sind eine drastische Anhebung des Mindestlohns, die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung und einer Arbeitslosenversicherung, der Schutz von Arbeiterrechten am Arbeitsplatz und Kontrollen der Arbeitssicherheit, eine Erhöhung der Renten sowie gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Letzteres hat besonders die Frauen angesprochen. Der Anteil der jungen Frauen, die VV wählten, liegt bei weit über 60%. Besonders die Forderungen zu Gunsten der Arbeiter und der Jugend haben VV Stimmen gebracht.
All diese bescheidenen Reformforderungen sind bitter nötig, denn Kosova ist das ärmste Land in Europa. Nach Angaben der Weltbank leben 30% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze (Einkommen unter 1,37 Euro pro Tag und Erwachsener) und 12% sogar unterhalb der Grenze extremer Armut (Einkommen unter 0,93 Euro pro Tag und Erwachsener).
Betroffen sind vor allem Alte, Behinderte, Bewohner kleiner oder weit abgelegener Städte und Gemeinden sowie die Angehörigen der nichtserbischen Minderheiten wie Roma oder Goranen. Die Armut in Kosova wirkt sich auch auf andere Bereiche aus: Erziehung und Bildung sind unterfinanziert, an den Schulen wird in drei bis vier Schichten unterrichtet. Die Gesundheitsdaten der Bewohner gehören zu den schlechtesten in Südosteuropa. Das macht sich jetzt besonders in der Corona-Pandemie bemerkbar. Kosova ist Corona-Hotspot. Die größten „Arbeitgeber“ in Prishtina sind Call Center. In ihnen wird ohne jeden Abstand eng zusammengepfercht gearbeitet.
In Kosova ist der Euro Landeswährung, die Preise sind bis auf Kaffee und Zigaretten weitgehend mit denen in Mitteleuropa vergleichbar. Die Arbeitslosigkeit liegt an der 30%-Marke, wobei diese Zahl nur eine offizielle Zahl ist. In Wahrheit melden sich vor allem Jugendliche nicht auf den Ämtern. Kurti hat nun in allererster Linie „ neue Jobs“ und eine „bessere Bezahlung“ versprochen. Vor allen Dingen will er die Mafia bekämpfen. welche nach seinen Worten „im Luxus lebt, Geld wäscht, und Arbeiter schlecht bezahlt“.
Der kapitalistische Privatisierungsprozess seit den 1990ern war und ist für Kosova ein absolutes Desaster. Die Hauptinvestoren sind türkische, US-amerikanische und deutsche Konzerne sowie deutsche und österreichische Banken. Gleichzeitig hemmen starke Mafiastrukturen die Entwicklung. Korruption und Schmiergelder bestimmen das staatliche Handeln auf allen Ebenen.
Die türkische Firma Limak übernahm vor einigen Jahren den Flughafen „Adem Jashari“ bei Prishtina. Auch hier wurden Löhne gekürzt und Arbeiter entlassen. Im Jahr 2010 wurde ein Streik am Flughafen gewaltsam niedergeschlagen. Die Verhaftung der Gewerkschafter wurde live im Fernsehen übertragen. Das sollte signalisieren, was mit widerständigen Arbeitern passieren kann. Dennoch scheiterte die Privatisierung der „Post und Telekommunikation“ PTK an eine dubiose Firma aus Hamburg. Die Arbeiter drohten mit unbefristetem Streik. Der Regierung sollte der Strom abgedreht werden. Seit wenigen Jahren gibt es eine gewisse Reaktivierung und Radikalisierung der Gewerkschaftsbewegung, die sich jetzt auch im VV-Wahlsieg niedergschlagen hat.
Kurti hat sich im Wahlkampf gegen die Privatisierung öffentlicher Betriebe und nationaler Reichtümer wie in Trepca im Norden Kosovas ausgesprochen. Trepca war einst die drittgrößte Förderstätte von Chrom, Nickel, Kupfer und Blei weltweit. Einst arbeiteten in und um Mitrovica 20.000 Arbeiter in der Förderung und Verarbeitung dieser Rohstoffe im Rahmen eines staatlichen Kombinats.
Wie weiter?
In Kosova hat eine Partei mit einem linkssozialdemokratischen Programm die Wahl gewonnen. Der Pferdefuß ist, dass VV nicht mit dem Kapitalismus brechen will. Dabei sind auch bescheidene Reformforderungen im Interesse von Arbeitern und Jugendlichen mit dem schwachen Kosova-Kapitalismus nicht vereinbar. Es ist daher dringend notwendig, in VV den linken Flügel zu stärken und marxistische Ideen zu verankern. Offiziell wird behauptet, dass es in VV keine Flügel gebe. Das entspricht aber nicht der Wahrheit.
Die aus einer radikalen links-nationalistischen Tradition hervorgegange VV ist ein Bündnis zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kräften. Sie genießt jetzt die Unterstützung der Arbeiterklasse und der Jugend. Der Aufbau einer wirklich marxistischen Strömung in der Tradition von Lenin und Trotzki innerhalb und außerhalb der VV ist umso dringlicher, zumal die VV-Führung, sobald sie an der Regierung ist, einem enormen Druck ausgesetzt sein wird, ihr Reformprogramm aufzugeben. Dieser Druck wird von den konservativsten Elementen innerhalb der Partei kommen, aber auch vom imperialistischen Einfluss.
Dieser Widerspruch wird bereits bei einem Blick auf die Wahlliste der VV sichtbar, die auch Kandidaten mit einem sehr bürgerlichen und konservativen Hintergrund enthielt, darunter Personen wie Kosovas Interimspräsidentin Vjosa Osmani, die von der LDK übergetreten war. Der Aufbau einer wirklich marxistischen Strömung in den Traditionen von Lenin und Trotzki innerhalb und außerhalb von VV ist daher um so dringlicher.
Trotz allem ist der Wahlsieg von VV ein wichtiger Schritt nach vorne. Auch für die Region. Seit langem hat wieder eine Partei mit einem fortschrittlichen Reformprogramm eine Wahl gewonnen. Das kann positive Auswirkungen in der gesamten Region haben.
Es kann allerdings noch zu massiven Spannungen in Kosova kommen. Die Situation ist alles andere als stabil und könnte explodieren, sollte es einen Versuch geben, Kurti von der Regierung fernzuhalten. Denn die Wahlkommission KOZ hat drei Kandidaten von VV von der Wahlliste gestrichen, darunter auch Albin Kurti. Begründung: ein Vorfall mit Tränengaseinsatz durch VV-Abgeordnete im Jahr 2018 im Parlament. Nach Meinung der KOZ könne daher Kurti nicht Ministerpräsident werden. Nun hat aber Kurti die meisten Persönlichkeitsstimmen erhalten. Wenn die KOZ bei ihrer Meinung bliebe, könnte dies zu massiven Spannungen führen. Massenproteste und ein Generalstreik wären mögliche Antworten. Wahrscheinlich wird die KOZ jedoch nicht bei dieser Haltung bleiben. Sonst bestünde angesichts der großen sozialen Spannungen sogar die theoretische Möglichkeit eines revolutionären Aufstands.
Die Frage des so genannten Friedensprozesses mit Serbien stand im Mittelpunkt der Intrigen, die im vergangenen Jahr zum Sturz von Kurtis Regierung führten. Kurti forderte im Wahlkampf die Vereinigung mit Albanien, ohne die nationalen Minderheiten in Kosova zu benachteiligen. Immer wieder sprach er sich für einen Dialog mit den in Kosova lebenden Serben aus. Das ist nach seiner Meinung wichtiger als der „Dialog“ mit der Regierung in Belgrad.
Für Marxisten ist das nationale Selbstbestimmungsrecht ein demokratisches Recht. Das muss auch für Kosova gelten, noch dazu, wenn alle großen imperialistischen Staaten vor einer Vereinigung Kosovas mit Albanien warnen. Ihnen ist natürlich Kleinstaaterei auf dem Balkan am liebsten, weil sie über Mini-Staaten besser herrschen können. Die Ausbeuter wollen keine Vereinigung der Arbeiterklasse und linken Kräfte in Albanien und in Kosova, geschweige denn die Vereinigung der Arbeiterklasse um ein revolutionäres sozialistisches Programm auf dem gesamten Balkan.
Die Frage der nationalen Selbstbestimmung kann jedoch nicht unter rein ethnischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Im Zusammenhang mit dem Balkan könnte dies extrem reaktionäre Auswirkungen haben. Eine Vereinigung von Kosova und Albanien auf kapitalistischer Basis würde die Probleme der Arbeiterklasse weder im Kosovo noch in Albanien lösen. Die Kapitalisten, ebenso wie die imperialistischen Plünderer des Reichtums dieser Länder, werden sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, dass wirkliche progressive Reformen durchgeführt werden. Schließlich mussten die Bergarbeiter und Ölarbeiter in Albanien in den letzten Jahren zunehmend für ihre Rechte und für die Enteignung der Minenbesitzer kämpfen. Die Zeichen stehen also auf eine Verschärfung des Klassenkampfes, auf scharfe Veränderungen und Erschütterungen, die auch auf die Nachbarstaaten ausstrahlen werden.